Sonntag, 25. Juli 2010

Telefonieren

Drüben sitzt die Tess auf der Veranda und sonnt sich. Soll ich sie anrufen? – Wenn ihr Mann dran ist, weiß ich gar nicht, nach wem ich fragen soll: Kann ich Ihre Frau sprechen? Oder Ihre Freundín?  Und wenn sie selbst dran ist, dann ist es auch nicht so einfach: Hallo, Tess!  Oder keine Anrede. Lieber gleich von mir reden: Hallo! Wolfgang Gensheimer. Ich wohne gegenüber von Dir. Weißt Du, wer ich bin? Oder mich lieber weiter erklären? Keine Frage. -  Wenn sie  sagt, dass sie nicht weiß, wer ich bin, dann habe ich schon verloren. Dann verstellt sie sich wieder, so wie sie sich damals verstellt hat. als ich meinen kleinen parfürmierten Brief abgeben wollte, und sie mich so überzeugend nicht gekannt hat, dass ich sie auch nicht erkannt habe. . – Inzwischen  habe ich eine Zigarette geraucht in der Küche vor dem offenen Fenster.  Anschließend habe ich nachgeschaut,  ob sie noch auf der Veranda sitzt. Nein. Jetzt steht sie im Wohnzimmer vor einem Spiegel  oder auch nur vor der Wand und macht irgendetwas Tessiges; als solches leicht daran zu erkennen, dass ich es mir nicht erklären kann, was sie da treibt.  Jetzt rufe ich sie an.  Zum vierten Mal in den letzten drei Tagen. Wieder ist der Anrufbeantworter dran. Wieder nimmt sie nicht ab.  Wie schon am Freitagabend, als ich sie  auch im Wohnzimmer gesehen habe und sie auch nicht dran ging. Will sie nicht? Darf sie nicht? Oder kann sie nicht, weil sie das mit ihrem Mann so abgesprochen hat?  Schattenspielartige Affäre mit mir, ja. Ich schreibe ihr, sie liest es. sie antwortet mit ihrem Licht und ihren anderen Zeichen. Sich bewundern lassen von mir, ja. Mehr jedoch  nicht. Kein Treffen. Kein realer Kontakt. Virtualität.  Spiel. Nur ein Spiel.  Schattenspielartige Affäre. Vielleicht hat ihr Mann  sie  gar  nicht gezwungen dazu, an der Demonstration am Donnerstag teilzunehmen. .Am Ende wollte sie das sogar selbst, mir die Grenze zu zeigen. Als ich am Donnerstagabend an sie schrieb, habe ich ihre Reaktion zwar anders verstanden. Doch die Reaktion da, das waren Lichtzeichen. Die Reaktion eben hingegen, das war ein Anrufbeantworter und dass sie nicht ans Telefon gegangen ist, obwohl sie da war, und am Freitagabend ist sie auch nicht rangegangen, obwohl sie da war.  Kann natürlich auch sein, dass ihr Mann zu Hause  ist. Kann sein, dass er auch am Freitagabend zu Hause war. Dass sie deshalb nicht rangehen konnte, obwohl sie es gerne getan hätte. So geht das, seit es geht. Es bleibt immer ein Rest von Ungewissheit. Gerade genug, um nicht aufzugeben. Rüber gehen könnte ich noch und läuten, am besten es so anstellen, dass ich irgendwie in das Haus komme, und wenn ich läute, gleich vor der Wohnungstür stehe. Weil ihr Mann rechnet ja damit, dass ich demnächst bei ihnen läute. - Das ist übrigens die Ausgangssituation des Dreipersonenstücks: Dass ein Charakter namens Biest läutet an der Wohnungstür von der Frau, mit der er eine schattenspielartige Affäre hat. wie ich sie habe mit der Tess, und dass er dann auf ihren Mann trifft und sagt, dass er seine Frau sprechen will.  - Warum? – Weil ich seit vielen Monaten eine schattenspielartige Affäre mit ihr habe und sie nun endlich kennenlernen will. – Obwohl ich ein paar brauchbare Einfälle dafür  hatte, was sich daraus dann entwickelt, habe ich das Stück verworfen.  Erstens, weil die Tess darin immer mehr zu Madame Bovary wurde. Zweitens, weil die Konfrontation zwischen dem Mann und dem Biest sich verselbständigt hat in einer Weise, dass es mich nicht mehr interessiert hat, weil der Mann mich nicht interessiert. Nach dem Ereignissen der vergangenen Woche frage ich mich allerdings, ob ich es noch mal versuchen soll mit dem Stück. Mit der Frau jetzt nicht mehr als Madame Bovary (wie langweilig), sondern, wie  sich am Dienstag  ergeben hat, als Cinderella (wie zauberhaft, wie tessig!). Und wenn es mir dann noch gelingt, die Donnerstagsdemonstration als Verhalten des Manns  in das Stück umzusetzen, dann habe ich endlich auch einen Antagonisten, mit dem es Spaß machen könnte. Wie heißt der Mann? Professor. Der ist und heißt wie im ersten Wurf Professor. Drei Personen:  Das alte Biest, kurz Biest, Cinderella, und der Professor.  Hey! -  Das noch: Etwas haben die vier Anrufe beim  Anrufbeantworter schon gebracht. Ich weiß jetzt, wie die Tess wirklich heißt. Neu ist mir der Name nicht. Denn er steht auch an der Klingel. Doch weil es ein deutscher Name ist, habe ich immer angenommen, das sei der Name der Frau, die früher in der Wohnung gewohnt hat und vielleicht immer noch die Besitzerin oder die Mit-Besitzerin ist. Nun wird aber auf dem AB gesagt, dass XY und XX leider nicht zu Hause sind, sich aber über den Anruf freuen und gerne zurückrufen.  Und da ist wohl anzunehmen, dass der Name von XX der Name von der Tess ist. Was ein komischer Zufall wäre, wenn es zutrifft. Der Vorname ist nämlich der gleiche Vorname wie der Vorname einer sehr guten  Ex-Freundin von mir und der Nachname ist der gleiche Nachname wie der Nachname von jemand  in Heidelberg. der ein wichtiger Gesprächspartner und ein Fast-Freund von mir war. Ich habe den Namen mal gegoogelt. Er kommt tatsächlich auch in den USA vor. Wenn es zutrifft, weiß ich nach mehr als 1 1/2 Jahren nun endlich wie sie heißt. Es ist allerdings nicht so, dass mich das in Euphorie versetzt.
Und ich werde sie auch weiterhin Tess nennen und sie auch so anreden, wenn ich jemals die Gelegenheit haben sollte sie anzureden.