Freitag, 16. Juli 2010

Muscle Shirt 1

Ablenkung und dann doch mehr. Wir kennen uns seit mehr als 30 Jahren nicht näher. Gemeinsamkeit war immer,  Bücher und Musik hin- und herschieben. Als wir uns nach einer zehnjährigen Unterbrechung des Kontakts wieder  treffen, fasst sie die Zwischenzeit so zusammen: Ich habe eine Psychoanalyse gemacht. Und ich habe Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen. Du hast Recht gehabt. Es hat mein Leben verändert.  Ich danke Dir dafür. - Am Rande stellt sich heraus, sie lebt mit einem zwölf Jahre jüngeren Mann zusammen. Der hat mit Film zu tun; sie übrigens mit Pharmazie. Als ich sie das nächste Mal treffe, ist der junge Mann dabei und wir machen einen Gang um den Stuttgarter Platz mit Kinderwagen und dem Sohn der beiden.  Zweimal gehen wir ins Kino, weil sie gerade einen Babysitter hat. Warum geht sie dann nicht mit ihrem Mann ins Kino? – Weil der beim einen Mal gerade dreht. Weil er beim anderen Mal in München ist und inzwischen mit Filmfinanzierung zu tun hat. Wir sehen Buena Vista Social Club im Delphi. Black Box Germany im Yorck: und da reden wir hinterher nur noch über Traudl Herrhausen.  Einmal treffen wir uns am Hackeschen Markt im Schwarzen Raben zum Abendessen. Der junge Mann ist dabei; mit einem Freund. Was bin ich froh, als ich wieder weg bin. Kann mit der Überfreundlichkeit und Geschmeidigkeit ihres Mannes nichts anfangen; das Plüschige seiner Nettigkeit, der Kitsch der ganzen Person. Aber für Filmfinanzierung ist das bestimmt nicht verkehrt so zu sein, und Hauptsache ist, ihr gefällt es. Der Sohn zerlegt mittlerweile ausgediente mechanische Wecker und der Mann hat mit ihm zusammen im Kinderzimmer ein Holzhaus gebaut, als wir uns das nächste Mal treffen. Ich recherchiere über alleinerziehende Mütter. Sie kennt welche vom Kindergarten und von Spielplätzen – Vorstellung von Müttern, die von Spielplatz zu Spielplatz ziehen, um Bekanntschaft mit anderen Müttern zu machen. Während wir reden, brennt sie CDs für mich. - Kennst Du nicht Intervention? Ist die Hymne von Arcade Fire. Musst Du haben. - Und sie leiht mir die ersten drei Staffeln von The Wire aus, damals noch ein Geheimtip. Der Mann produziert inzwischen, dreht aber auch am Set, und ist ständig weg.  Als ich mit ihr das nächste Mal telefoniere, ist er gerade mit einer Filmproduktion auf Sizilien und hat in Palermo Lou Reed vom Flughafen abgeholt, der einen kleinen Auftritt in der Produktion haben soll. Und du glaubst es nicht, sagt sie, wie der aus dem Flieger kommt. - Wie? - Im Muscle Shirt. – Hm. – Weißt Du, was ein Muscle Shirt ist? – Klar, weiß ich, was ein Muscle-Shirt ist. Mein Kleiderschrank ist voll mit Muscle Shirts, sage ich. - Nein, ich sage nichts. Stattdessen denke ich, das passt zu dem Typ von ihr, dass er sich über so etwas mokiert. Und wahrscheinlich ist das so ein Paarding von den beiden, dass sie sich zusammen über so etwas mokieren. Warum soll Lou Reed nicht ein Muscle Shirt tragen, wenn er in Palermo aus dem Flieger steigt? Der Mann ist Gitarrist, der braucht Armfreiheit, für den ist das Arbeitskleidung. Außerdem ist er Lou Reed, der hat mit Andy Warhol auf der weltberühmten Couch in der Factory gesessen und war mit Nico in der After-Hours-Bar, als ein Mann erschossen wurde, und hat einen Song darüber geschrieben. Weil ich nichts gesagt habe,  schreibe ich ihr eine Mail. Ich kopiere in die Mail den Text von All Tomorrow´s Parties und schreibe etwas dazu, in dem das Wort "spießig" mit Fragezeichen vorkommt: spießig? –  Ich schreibe das nicht ihretwegen, sondern weil ich dem Mann ans Bein pissen will damit; wegen seiner Spießigkeit, mit der er mir auch mal in die Quere gekommen ist, als es um die unausgesprochene Frage ging, ob es richtig ist, sich Pornos anzugucken. Alleine schon die Frage! - Fortsetzung folgt.