Mittwoch, 21. Juli 2010

Lette

Einmal, als der russische Herr nach längerer Abwesenheit zum ersten Mal wieder im Hallenbad war und gerade unter der Dusche stand, kam der preußische Herr auf ihn zu, hat einen Diener angedeutet und allen Ernstes Schalom gesagt. Der russische Herr hat den Gruß stumm mit einem Nicken und einem hilflosen Lächeln erwidert. Darauf hat der preußische Herr sich erkundigt, wie der Urlaub war. Schön, hat der russische Herr gesagt, er ist überall gewesen. am Roten Meer, am Toten Meer, überall. – Darauf hat der preußische Herr gesagt, dass er  in der Gegend einmal eine unvergessliche Wanderung gemacht hat  und da habe ich gedacht: Mit Feldmarschall Rommel oder was? – Aber erstens ist Rommel nicht so weit gekommen mit seinem Feldzug, auch wenn Steven Spielberg im dritten Indiana-Jones-Film einen anderen Eindruck erweckt,  zweitens ist der preußische Herr dazu nicht alt genug, wenn auch sehr alte Schule, und drittens weiß ich inzwischen auch nicht mehr, was da eigentlich so verkehrt gewesen sein soll an diesem formvollendeten zackigen Schalom. - Heute hat der russische Herr beim Duschen erzählt, dass er morgen für zwei Tage nach Riga fliegt. Dabei hat sich herausgestellt, dass er gar kein Russe ist, sondern dass er aus Lettland kommt und dass er  so etwas wie einen lettischen Patriotismus hat. Er hat nämlich ganz stolz berichtet, dass es nächstes Jahr in Lettland eine Abstimmung über die Einführung des Euro geben wird und dass es keineswegs sicher ist, dass die zugunsten des Euro ausgehen wird, weil der Lats, die lettische Währung, so stabil ist. Was sich der Abdeckung der Währung durch den lettischen Goldschatz verdankt,  welcher in London lagert – und von den Letten in den Jahrzehnten der russischen Zwangsherrschaft eben wie ein Goldschatz gehütet und mit Erfolg der Begehrlichkeit der russischen Besatzer entzogen wurde . – Wie sie das wohl hingekriegt haben, habe ich mich da im Stillen gefragt, wo die Russen doch sonst mit ihnen gemacht haben, was sie wollten. Gesagt habe ich stattdessen, dass es für den Außenhandel Lettlands sicher günstig wäre, wenn das Land sich der Euro-Zone anschließen würde. Und da hat mir der kleine Herr, der inzwischen dazu gekommen war, zugestimmt. Der lettische Herr hingegen beharrte auf seinem Stolz auf die lettische Währung und dem Vorteil der Goldabdeckung in London. Womit er zeigte, dass er von Geschäften und Finanzen nicht so viel versteht wie vielleicht von Technik;  er ist nämlich Ingenieur und hat, nachdem er 1979 nach Deutschland gekommen war, als solcher bei Mercedes-Benz gearbeitet. Nachdem der lettische Herr sich verabschiedet hatte, hat der kleine Herr mich zu sich gewinkt, sich zu meinem Ohr hochgereckt – der kleine Herr ist schon sehr klein – und als wäre das etwas, das unbedingt unter uns bleiben müsse, sagt er mit gesenkter Stimme: Er ist Jude. Ich weiß, habe ich darauf betont gleichgültig geantwortet und ihn damit zu bremsen versucht, weil ich schon wusste, was jetzt kommt. Doch der kleine Herr ließ es sich nicht nehmen, mir zu versichern, dass der lettische Herr und Jude sehr nett ist, und das hat er dann auch noch belegt, als wäre das notwendig, indem er hinzufügte,  dass er ihn schon seit vielen Jahren kennt. – Danach stehe ich vor meinem Spind, ziehe mich an und  unterhalte mich mit dem verschmitzten Herrn, der seinen Stammplatz fünf Spindnummern von meinem entfernt hat. Da geht der kleine Herr -  zum Abschied seine Tasche schwenkend - an uns vorbei. Er trägt heute kurze Hosen. In denen sehe ich ihn zum ersten Mal und ich verspüre das starke Bedürfnis, etwas Diskriminierendes zu sagen. Ich beuge mich an das Ohr des verschmitzten Herrn und flüstere:  Jetzt ist er schon so klein und dann trägt er auch noch kurze Hosen. – Wir lachen schäbig, und dann füge ich, um nur keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hinzu: Aber er ist sehr nett. – Worauf der verschmitzte Herr  sagt: Das stimmt. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. – Nein, das ist nicht wahr. Das hat er nicht gesagt. Und immer im Trend, hat er gesagt, der verschmitzte Herr. Nachdem ich gesagt hatte, aber er ist nett, hat er gesagt: Und immer im Trend. Das kann er nun aber gar nicht so gemeint haben, wie es hier jetzt verstanden werden könnte. Und ich füge es auch nur hinzu wegen der Vollständigkeit  und  ich weiß schon, dass es pointierter gewesen wäre aufzuhören mit: Aber er ist sehr nett. Denn darum ist es ja gegangen, wenn es hier überhaupt um etwas gegangen ist.