Donnerstag, 1. Juli 2010

Stur

Interview. Schwimmmeisterin. Wäre doch am besten gewesen, wenn ich davon heute berichten könnte, von meinem menschlich einfühlenden Gespräch mit der Schwimmmeisterin über ihren Fall sinnloser Streitbarkeit. Doch sie war nicht da, als ich die Halle betrat und auch, als ich eine Stunde später das Becken verließ, habe ich sie nirgendwo gesehen. Ihr entspannter Kollege war da. Den wollte ich ansprechen und nach ihr fragen. Dann hat er mich angesprochen. Nachdem ich aus dem Becken geklettert bin und auf ihn zugehe, grinst er mich an und meint schwer beeindruckt,  also das könne er nicht, so sportlich aus dem Becken raus zu steigen wie ich; er würde immer die Treppe nehmen. Nun ist der entspannte Schwimmmeister gerade mal 40, höchstens Mitte 40;  er hat noch sämtliche Haare, in dunkler Originalfarbe, ist nicht gerade ein Athlet, aber er hat auch keinen Fettbauch. Deshalb sage ich treuherzig, ach, das könne er ganz bestimmt auch, er müsse es nur mal versuchen, und ich merke gar nicht, dass er mich auf den Arm nimmt, weil er das offenbar für Angeberei hält, so das Becken zu verlassen, wie ich es tue. Dass er sich über mich lustig macht, wird mir erst klar,  als er noch breiter grinsend als zuvor sagt, beim nächsten Mal werde er mal probieren, ob er das auch so toll hinkriegt wie ich. Der entspannte Kollege ist anscheinend einer, der andere gerne vorführt. Gestern die Kollegin, indem er sie dumm hat da stehen lassen vor mir.  Heute mich, indem er mich als Angeber hinstellt. Kann er haben. Schenke ich ihm. Weil trifft mich überhaupt nicht.  Ich weiß ja, warum ich so aus dem Becken steige. Jedenfalls ist es mir gleich danach wieder eingefallen, als ich mich frage, ob ich das denn tatsächlich aus Angeberei mache. Antwort: Nein, es ist ein Contessa-Erinnerungs-Ritual. Die Contessa hat nämlich das Becken immer wie folgt verlassen: Sich abgestoßen vom Boden, sich hochgestemmt in den Sitz, mit dem Gesicht dem Becken zugewandt,  um darauf in einem 45-Grad-Schwung ihrer contessenhaft geschlossenen Beine, sozusagen von sechs auf neun Uhr, ihre Füße auf dem Beckenrand aufzusetzen und sich auf eine Hand gestützt federnd aufzurichten. Das alles unangestrengt, beiläufig, cool und anmutig, contessenhaft elegant. Ein Bild, das zu meiner Sammlung der Lieblingsschnappschüsse von ihr gehört. Unzählige Male gesehen im Hallenbad in der Hauptstraße. Dort ist ihr diese Übung deshalb so mühelos gelungen, weil man da so stehen kann, dass der Beckenrand sich in oberer Brusthöhe befindet. Während am Heidelberger Platz der Rand des Schwimmbeckens deutlich höher, viel höher ist. Der Schwung, den man nehmen kann, indem man sich von dem Absatz an der Beckenwand mit den Füßen abstößt, reicht gerade mal aus, um mit dem Kopf über den Beckenrand zu kommen. Hat man das geschafft, geht es erst richtig los, denn nun muss man sein ganzes Körpergewicht unter Einsatz der Oberkörpermuskulatur klimmzugartig aus dem Becken heraus stemmen. Trotzdem hat die Contessa, als sie zum ersten Mal im Hallenbad am HD-Platz war, darauf beharrt, das Becken auf ihre Contessa-Art zu verlassen. Und das sah, dann gar nicht mehr elegant aus, weil es ihr nur mit äußerster  Mühe und erst nach mehreren Versuchen gelungen ist, aus dem Becken heraus zu klettern. Wie sie das mit der ihr eigenen Sturheit durchgezogen hat, am Ende mehr krabbelnd als kletternd, das gehört auch zu meinen Lieblingsschnappschüssen von ihr. Und: Es ist der Grund dafür, dass ich es dann auch mal ausprobiert habe, auf diese Art das Becken zu verlassen, und fortan nicht mehr die Treppe benutzte wie zuvor und wie jeder andere, sondern mich lieber dem Spott des entspannten Schwimmmeisters aussetze als auf dieses Ritual zu verzichten. Das ist mir in diesen Einzelheiten allerdings erst eingefallen, als ich bereits unter der Dusche stand. Und wäre es mir vorher eingefallen, hätte ich es dem entspannten Schwimmmeister nicht auf die Nase gebunden.  Dafür werde ich morgen entspannt zurückgrinsen und ihn dann fragen, was ich heute über all dem ganz  vergessen habe: wann wir die streitbare Kollegin wieder sehen? Fortsetzung folgt.