Dienstag, 7. Dezember 2010

Verlust

Beim Überarbeiten des Vater-Posts gestern: Der Sohn hat seine Mutter sterben sehen. Er war ein Kind, sieben Jahre alt. Schutzlos ausgeliefert dem Verlust, der auch schmerzlich gewesen wäre, wenn er kein Kind mehr gewesen wäre. Er hat darauf eine Therapie gemacht. (Peter fragen: Was war mit dem Sohn damals? Was hat ihn dazu veranlasst, den Sohn in eine Therapie zu schicken?) In der Therapie hat der Sohn gelernt, mit dem Verlust seiner Mutter umzugehen. Er ist im Umgehen mit einem solchen Verlust vielleicht in seiner Persönlichkeit kompetenter als jeder andere, der in seiner Kindheit nicht eine vergleichbare Erfahrung machen musste. Jetzt erlebt er die Lebenskrise seines Vaters: Krebserkrankung, Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, Evidentwerden seines Alkoholismus und jetzt auch noch das mit dem Fuß. – Der Junge, der seine Mutter hat sterben sehen. Der therapeutisch gelernt hat, mit dem Verlust seiner Mutter zu leben, der erlebt nun wie sein Vater – nicht stirbt, aber - dahinsiecht. Er will das nicht noch einmal aus nächster Nähe mit ansehen, was er erlebt hat, als seine Mutter gestorben ist. Wie sich die geliebte Person, der ihm am nächsten stehende Mensch aufgelöst hat vor seinen Augen – nicht mehr für ihn da sein konnte, nur mehr mit sich selbst beschäftigt war und der Auflösung seiner Existenz. Sterbend, zusammenbrechend in seiner Persönlichkeit, das ist nicht das Gleiche und trotzdem eins: die gleiche Erfahrung. Nur dass er jetzt erwachsen ist. Selbständig genug, stark genug, um sagen zu können, das will ich nicht haben. Das habe ich schon einmal erlebt. Ich weiß, wie das ausgeht. Ich weiß, was das mit mir macht. Ich kann es auch nicht aufhalten. Das habe ich erlebt, dass ich es nicht aufhalten kann. Es geschieht unabhängig von dem, was ich will und was ich mir wünsche. Und deshalb gehe ich. - Nicht ganz weg. Zwei-, dreimal die Woche kommt er. Kümmert sich um den Vater. Er will sich dem nur nicht aussetzen, wie der Vater sich auflöst, wie er sich entfernt in eine andere Welt, wie er nicht mehr er selbst sein kann, die geliebte Person, die er immer war, wie seine Mutter es war und es dann nicht mehr sein konnte, als sie gestorben ist. – Das Wenige, was Peter erzählt hat davon, was für eine Haltung der Sohn ihm gegenüber einnimmt. Vielleicht auch deshalb so wenig, weil es ihm so wenig schmeichelt. Der Sohn hat ihm vorgeworfen, sich hängen zu lassen. Nichts zu machen gegen sein Elend. Nicht in die Klinik zu gehen, um sich entgiften zu lassen. Nicht am Samstag in die Notaufnahme des Urbankrankenhauses zu gehen, wenn ihm der Fuß so wehtut, dass er nicht mehr gehen kann. – Doch Peter sagt, warum soll ich da hingehen an einem Tag, an dem die richtigen Ärzte in ihrem Wochenende sind, und mir von einem PJler sagen lassen, was ich selbst schon weiß: dass das Durchblutungsstörungen sind. Nun gut, es waren keine Durchblutungsstörungen, es ist ein doppelter Zehenbruch. Aber die Entgiftung, die hat er selbst hingekriegt; da brauchte er keinen Klinikaufenhalt dazu; seinen Blutdruck überwachen während des Entzugs, das wie alles andere, was zu tun und zu lassen war, das konnte er selbst. Und so einen schlimmen Alkoholismus hat(te) er auch gar nicht, wie er sagt. Er war nie betrunken, er hatte nie einen Kater, behauptet er. Er war ein sogenannter Spiegeltrinker. Und jetzt ist er keiner mehr. Aus eigener Kraft hat er das geschafft. Deshalb weiß er auch noch nicht, ob er am 16. Dezember in die psychosomatische Klinik gehen soll, wenn sie ihm eine zweite Chance geben wollen nun, da er entgiftet ist. Denn er will möglichst alles selbst machen, mit eigenen Mitteln, wenn es irgendwie geht. Wenn es nicht gerade ein Zungenbodenkrebs ist und komplizierte Operationen notwendig sind, um ihn so zu entfernen, dass die Zunge erhalten bleibt und die Fähigkeit zu sprechen. In diesem Fall hat Peter, wie die meisten anderen auch, ohne langes Verhandeln zugelassen, was notwendig war. Aber sonst ist es Peters Konzept und ein elementarer Bestandteil seines Persönlichkeitsentwurfs, alles selbst zu machen. Daran hat die Erfahrung der Krebsbehandlung nichts geändert. Er hat sie erduldet, aber sie hat ihn nicht gefügig gemacht gegenüber dem medizinisch-therapeutischen Komplex. Er will von niemandem abhängig sein. Er will sich nur auf sich selbst stützen. Allenfalls noch auf seinen Sohn. Dem will er zwar auf keinen Fall zur Last fallen, aber seine Hilfe nimmt er an. Doch der Sohn hat einen anderen Entwurf. Er vertraut den für Leid und Elend zuständigen Stellen. Schließlich hat er es selbst erlebt, wie eine solche zuständige Stelle ihm (therapeutisch) geholfen hat, als er ein Kind war. Wie weit geht diese Haltung? Wenn sein Vater eines Tages stirbt, wird er ihn zu Hause sterben lassen, so wie seine Mutter zu Hause gestorben ist? Wird er bei ihm sein, so wie er und sein Vater beim Sterben seiner Mutter dabei waren? Oder soll das Sterben dann auch bei einer der dafür zuständigen Stellen geschehen, begleitet von dafür zuständigen Fachkräften? – Ich denke, dass er bei ihm sein wird.