Brief an Claudia von heute Vormittag. Hinzuzufügen zur Bemerkung über die Tess und diese unwahrscheinliche und trotzdem wahre Liebesgeschichte mit ihr: Wie ich mich viele Jahre lang verloren gefühlt habe. Und wie das überhaupt nicht mehr so ist, seit es die Tess gibt. Kein Gefühl der Verlorenheit mehr. Wie ich nun aber nicht weiß, ob das mit etwas zusammenhängt, was von der Tess ausgeht (also etwas, das unabhängig von mir ist). Oder ob ich mir nur sie gewählt habe, um meine Anhänglichkeit, mein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit und meine Sehnsucht nach Liebe an ihr festzumachen. So wie im Versuch von Konrad Lorenz die Gänseküken einer Attrappe hinterher laufen, nachdem man ihnen ihre Mutter entzogen hat. Womit ich nicht sagen will, dass die Tess nur eine Attrappe sein könnte. Aber einen konkreten Anlass für meine Anhänglichkeit hat sie mir nicht gegeben. Stimmt das? – Nein. Wenig Anlass hat sie mir gegeben. Das Wenige allerdings mit einer Beständigkeit, die auch eine Attrappe bieten könnte, die aber, da sie nun mal keine Attrappe ist, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. – Später Heimlichkeiten. John Lennon: Whatever gets you through the night ´salrigt. – Setze loneliness für night und du hast es. Aber nicht denken, Heimlichkeiten hat etwas mit Drogen zu tun. Völlig falsche Spur. - An die Tess vorhin: (gute Laune nach den Heimlichkeiten) … aber noch viel bessere Laune hätte ich nach einem Schneespaziergang mit Dir, bei dem wir ganz lange schweigend nebeneinander hergehen und uns dabei immer wieder erstaunt von der Seite anschauen, weil wir es nicht fassen können, dass wir nebeneinander hergehen, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. – Du kennst diesen Traum von mir schon. Du weißt, was ich damit meine. Ich muss mich jetzt gleich um den Post von heute kümmern und dann will ich den Roman von Bret Easton Ellis zu Ende lesen. Spannend. Ich will wissen, wie er ausgeht. Schade, dass ich ihn morgen zurückgeben muss (Bibliothek, Vorbestellungen). Ich würde gerne mit ihm arbeiten. Von ihm erzählen im Blog. Dazu wäre es gut, wenn ich ihn zur Hand hätte, um nachzulesen, um zitieren zu können. – Worum geht es? - Alienation (*) in sexuellen Beziehungen. Es ist alles nur ein Geschäft miteinander. Auch ohne Escort-Service. Den gibt es außerdem noch. Und dann passiert es dem Master of Alienation (einem erfolgreichem Drehbuchautor), dass er sich bei einer solchen Geschäftsbeziehung (Rain heißt sie, und sie will in seinem Film mitspielen) verliebt – in eine Queen of Alienation. Los Angeles. Und wie immer bei Bret Easton Ellis ist das Leben sehr gefährlich. Immer wieder verschwinden Menschen und werden dann grausam verstümmelt tot aufgefunden. – Bewundere den Minimalismus der Erzählung. Das Veraltete, das Angeranzte des literarischen Erzählens gibt es hier überhaupt nicht. Wünschte, ich könnte den Text auf Englisch lesen. Aber besser Deutsch als gar nicht. (…) Meine gute Laune schmilzt wie Schnee in der Küche. Vielleicht rettet mich der Blog. Ach, und dann habe ich mir vorhin noch beim Zwiebelschneiden so tief in den Daumen geschnitten, dass ich geblutet habe wie ein abgestochenes Schwein. Warum erwähne ich das? (...) Tess, ich glaube, ich disponiere um. Keine Lust auf den Schlub heute. Dann muss ich jetzt aber Text klauen von Dir. Und dann nehme ich auch gleich noch das: (...) Attrappe. Schönes Wort. Du bist natürlich keine Attrappe. Aber dass ich mir die Frage gestellt habe – ist es Deine Wirkung oder generiere ich es selbst? –, das wirst Du verstehen. Ich beantworte die Frage jetzt mal. Es ist Deine Wirkung. Dass Du nie weggegangen bist. Die ans Wunderbare grenzende Beständigkeit. Man könnte es auch Treue nennen. Wenn es nicht die Begleitumstände gäbe.
Bret Easton Ellis, Imperial Bedrooms
(*) Alienation = Entfremdung