Dienstag, 21. Dezember 2010
Hautkrebs
Peter. Am Samstag ist sein Sohn endgültig ausgezogen, mit allen seinen Sachen. 26 Jahre war er hier. Jetzt ist er weg, hat Peter gesagt. Mehr nicht. Gestern wollte der Sohn kommen, sollte ihm Geld aus dem Automaten holen, weil Peter nicht raus kann bei dem vielen Schnee. Doch er hat abgesagt und sich für heute angekündigt. Peters Fuß heilt allmählich, aber er kommt immer noch nicht in feste Schuhe rein. Zu den Arztterminen fährt ihn seine Freundin. Gestern Ultraschalluntersuchung der beiden Knubbel an seinem Hals. Hat nicht geklappt. Weil er keinen Termin hatte in der Klinik. Privatpatienten-Privileg hat nicht gezogen. Er hätte endlos lange warten müssen. Wollte er nicht. Zwei Gründe: Er sah unmöglich aus. Nur zur Hälfte rasiert. Sein elektrischer Rasierer ist kaputt gegangen. Alter Rasierapparat. Den neuen hat der Sohn mitgenommen. Zweiter Grund: Ich bin völlig überrascht, dass er es zugibt. Er hat auch Angst vor dem Untersuchungsergebnis. Denn es war auf den Tag genau vor zwei Jahren, als er die Zungenbodenkarzinom-Diagnose bekommen hat. Verständlicher Aberglaube an die Duplizität von Ereignissen. Und überhaupt: die Angst vor einer schrecklichen Gewissheit. Solange man nichts weiß, kann man immer noch hoffen, dass es gutartig ist, oder dass man eines Morgens vor den Spiegel tritt und die Knubbel befühlt und feststellt, sie bilden sich zurück. Aber wenn erst mal ein Arzt gesagt hat: Es sieht nicht gut aus, dann ist man von jetzt auf nachher in einer anderen Welt: Leben vor dem Tod. – Telefonieren gestern. Peter: Beim Zeitunglesen habe ich an dich denken müssen. – Ich: Bildzeitung? Nachruf für Célia von Bismarck? – Ja. – Habe ich auch gelesen. Guter Artikel von Alexander von Schönburg (kleiner Bruder von Gloria von Thurn von Taxis und Autor des lesenswerten Buches Die Kunst des stilvollen Verarmens). Ich mochte den Schluss des Artikels, obwohl ich ihn eigentlich kitschig hätte finden müssen: Ich war heute Morgen in der Kirche. Ich habe mich dort bei Gott bedankt, Célia gekannt haben zu dürfen. Sie war ein engelhaftes Wesen. Jetzt ist sie ein Engel. - Hat Peter auch gefallen. Peter hat kein Problem mit BILD; hat als Student mal als Fahrer für die BILD-Redaktion gearbeitet. Er liest jeden Tag die BILD in der Papierausgabe und auch die Bild am Sonntag. Den Nachruf in der BamS hat er auch gelesen. Wir haben ein Bildzeitungsleser-Gespräch. Schöne Frau; sah aus wie die junge Françoise Hardy. Aber irgendwas stimmt nicht in der Berichterstattung, zumindest ist sie lückenhaft: Das kann nicht sein, dass sie mit Anfang 20 Hautkrebs hat und der entfernt wird und nach 16 Jahren erst hat der gestreut in die Bauchspeicheldrüse. Da muss sie doch zwischendurch noch mal Hautkrebs gehabt haben oder der Krebs in der Bauchspeicheldrüse war eine Sache für sich. Hautkrebs ist auch nicht bekannt dafür, dass er in die Bauchspeicheldrüse streut. Wenn er streut, dann eher in Leber, Lunge, Gehirn. Auf jeden Fall sind das die Organe, die in der Nachsorge beobachtet werden. – Wir wissen nichts Genaues und reden deshalb über Krebspersönlichkeiten. Ob es so etwas gibt, wissen wir auch nicht, die medizinische Forschung schließt es jedenfalls aus. Doch wir haben unsere Beobachtungen gemacht im Leben. Peter hat einmal als Sozialarbeiter in der ambulanten psychiatrischen Betreuung gearbeitet, da gab es einen Flur vor seinem Zimmer, da warteten seine psychiatrischen Klienten zusammen mit Krebspatienten, die im Zimmer neben seinem Zimmer psychologisch betreut wurden. Peter sagt, wenn er die Tür aufgemacht und die Wartenden gesehen hat, dann hat er mit einem Blick erkannt, welches die psychiatrischen Fälle waren und welches die Krebspatienten. Und zwar nicht aufgrund des körperlichen Zustands. - Woran dann erkannt? Das vergesse ich ihn jedes Mal zu fragen, wenn er diese Geschichte erzählt. Gestern wieder. – Aus der BILD-Berichterstattung wissen wir, dass Célia von Bismarck sehr beliebt war. Das ist schon mal ganz schlecht für die Gesundheit. Denn was muss man sich alles antun, um überall beliebt sein zu können. Sie hat sehr diszipliniert gelebt wegen ihrer frühen Hautkrebs-Erkrankung. Wahrscheinlich auch schlecht, zu diszipliniert zu leben. Ihre Ehe mit Calle von Bismarck ist wegen der Alkoholsucht ihres Mannes gescheitert. Alexander von Schönburg hat das mal geschrieben in der BILD und sie war froh, dass das am Ende noch einmal richtiggestellt wurde, hat sie ihm darauf vor drei Wochen gesagt und gedankt dafür. Heute steht in der WELT ein Nachruf von Ulf Poschardt. Der formuliert das mit der gescheiterten Ehe so: dass Célia von Bismarck dem angeheirateten Familiennamen mehr gab, als ihm durch Scheidung genommen worden war. - Was gab? - Noblesse, die weniger Noble zur Nachahmung inspirierte. Wer wissen will, was sie sonst noch gemacht hat im Gesellschaftsleben Berlins, wo sie zuletzt lebte, Poschardt lesen. - Célia von Bismarck 1971 - 2010. Gestorben in Genf, in den Armen ihrer Mutter, wie wir aus der Bildzeitung wissen. - Und Peter: Der hat also gestern zum ersten Mal zugegeben, dass er Angst davor hat zum Arzt zu gehen, weil er dort schlechte Nachrichten bekommen könnte. Darauf habe ich ihm gestanden, dass das bei mir nicht anders ist. Jetzt muss ich ihn nur noch dazu bringen, sich einzugestehen, dass er – entgegen seinen anders lautenden Aussagen - am Leben hängt wie wir alle. Und ihm dann klar machen, dass man sich seine schlechten Nachrichten so früh wie möglich abholen sollte. Solange möglicherweise noch was zu machen ist.