Donnerstag, 2. Dezember 2010

Nachfrage

Jetzt muss ich aufpassen. Am besten wäre ein Texteffekt wie Screen Splitting. Rechts die Mails des Freundes; Dokumentation; jeder Leser kann sich seinen eigenen Eindruck verschaffen. Links mein gewohnt emotional aufgewühlter Text mit meiner Lektüre der Mails. Doch zweispaltiger Text geht hier nicht. Und die Mails des Freundes im Original wiederzugeben geht wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen schon gar nicht. Aus rechtlichen Gründen? – Bei keinem anderen mir vorstellbaren Text-Mitspieler würde ich auf rechtliche Gründe kommen, beim Freund allerdings sofort. Denn der Freund ist – was er selbst zugibt – ein Prozesshansel. Und da er nicht verstanden hat oder verstehen wollte, was ich hier in diesem Blog treibe, kann ich mir auch nicht sicher sein, dass er den friedvollen Charakter dieser Textfolge erkennt, und aus der Erzwingungshaft bloggen, weil ich eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, will ich nicht. Deshalb keine Wiedergabe seiner beiden Mails (mit Ausnahme eines Satzes), sondern Berichterstattung darüber. Wenn es so weit ist. Jetzt ist es erst mal Mittwoch letzter Woche. Der Freund hat sich am Montag nicht gemeldet, am Dienstag nicht gemeldet. Er versteckt sich vor mir, ist die interne Sprachregelung. Er will mich nicht mal anhören. Wenn er nein gesagt hätte zu meinem Angebot, wäre das schon hart genug gewesen, aber was hätte ich dagegen sagen sollen? Doch sich einfach zu entziehen! Wie ist der denn? Wie geht der mit mir um? – Ich verspreche, dass ich das Bild nie wieder verwenden werde, aber hier passt es zu gut: Bei mir reitet die Kavallerie! Ohne Pause. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Am Mittwoch schreibe ich einen Brief an Claudia, eine der besten Freundinnen, die den Freund nur flüchtig kennt und ihn schätzt, weil sie seinen Vater kannte und sehr schätzte. Unter Vermischtes schildere ich Claudia, was ich gerade erlebt habe mit dem Freund, und fasse meine ganze Verbitterung über ihn in einem Wortspiel über Vater und Sohn zusammen: Da ist ein Apfel sehr weit vom Stamm gefallen. – Oder heißt es: weit vom Baum? Der Apfel fällt nicht weit vom Baum oder weit vom Stamm? – Googlen: Beides wird gesagt.– An den Freund selbst habe ich zuvor eine Mail geschrieben mit der Nachfrage, woran es denn lag, dass er sich nicht gemeldet hat. Das nur, um es getan zu haben. Ich verspreche mir nichts davon. Er antwortet auch nicht. Erst am nächsten Tag, nachdem ich mit einer Person aus seiner Umgebung Kontakt hatte in einer anderen Sache und nebenbei nachgefragt habe, ob alles in Ordnung sei beim Freund (krank?), schickt er mir eine Mail: Er ist in Berlin, aber vielbeschäftigt. War am Wochenende beim 20jährigen City Slang Jubiläum. Und ab Montag hatte er mit seinen Geschäften zu tun.  – Und während dessen hattest Du keine zehn Minuten Zeit, um mal anzurufen? schreibe ich zurück. Weiter verbittert. Und dass er ankündigt, dass er mich im Laufe des Tages anrufen will, dazu kann ich nur sagen: Ach! Weiß ich jetzt gar nicht, ob ich da noch Lust drauf habe. - Doch das schreibe ich ihm nicht. Der Tag vergeht. Kein Anruf. Dafür am Abend eine zweite Mail. Sein Telefon funktioniert nicht. Es ist alles ganz schlimm. Er weiß nicht, wie er am nächsten Morgen ein Taxi rufen soll, um rechtzeitig am Bahnhof zu sein für die Heimfahrt. – Es ist ein Drama, wie ich es in dieser Zuspitzung nur aus meinem Leben kenne.  – Er schlägt vor, dass ich ihn anrufe (auf sein Handy, vielleicht funktioniert es bei eingehenden Anrufen, meint er; Festnetz hat er nicht). Zu diesem Vorschlag muss man wissen, dass ich bei meiner Finanzlage und dem Tarif meines 5-Euro-Vodafone-Vertrages Mobiltelefonate vermeide und dass ihm das bekannt ist. Es könnte aber auch sein, dass er in irgendeinem Halsabschneider-Workshop gelernt hat, dass man Leute, die was von einem wollen, prinzipiell selbst anrufen lassen soll. Denke ich reflexartig, bin aber keineswegs so verbissen drauf, wie das vermuten lässt. Es gibt ein ungutes Gefühl - eine hässliche Anmutung, die unterdrücke ich sofort und hier werde ich sie für mich behalten (wenn der Freund will, werde ich ihm sagen, was das für eine Anmutung war; aber nur ihm und nur, wenn er will). Doch zugleich bin ich amüsiert. Der Freund schafft es wieder einmal, mich zum Lachen zu bringen. Natürlich kann es sein. dass bei ihm das Mobilfunknetz ausgefallen ist und er gerade ein geistiges Tief hat und deshalb nicht darauf kommt, dass es auch noch einen Taxistand in seiner Nähe und die U-Bahn gibt. Doch wenn das nicht zutreffen sollte, wenn er sich das alles nur ausgedacht hat, weil er auf keinen Fall mit mir telefonieren will, dann ist diese Mail ein unendlicher Witz und als solcher schon wieder gut. – Er schreibt dann noch, dass er sich Gedanken macht über meine Situation und dass er dazu ganz viel zu sagen hat, allerdings besser nicht am Telefon. -  Ja nun, da hätten wir uns mal treffen sollen. – Ich schreibe ihm zurück, dass meine Situation eigentlich gar nicht so schlecht ist, dass ich eben nur finanziell in Bedrängnis bin. Ich hätte auch schreiben können: Über meine Situation braucht er sich keine Gedanken zu machen, weil ich mir die schon selbst mache. Was ich brauche ist Unterstützung bei dem, was ich tue. Doch das ist viel zu ernst. Viel zu ernst ist auch, was ich ihm dann tatsächlich schreibe: Warum und wie sehr ich auf seinen Anruf gewartet habe am Anfang der Woche, als sein Telefon noch funktionierte. Und schließlich frage ich ihn noch, wie der letzte Satz seiner Mail zu verstehen ist: Ich bin jetzt wieder zu Hause, was du dir denken kannst. Denn je länger ich diesen Satz anstarre, desto surrealer schaut er zurück. - Inzwischen habe ich die beiden Mails des Freundes noch einmal durchgelesen und muss zugeben, dass mir dabei die zweite Mail, die mit dem nicht funktionierenden Telefon, plausibler erschien als zunächst. – Das war gestern, als ich diesen Text entworfen habe. Heute, während ich den Text überarbeite, erscheint mir die Mail wieder als reiner Aberwitz. Aber - siehe oben: gut gemachter Aberwitz. Vielleicht ist es morgen wieder anders. Damit ist auch das noch festgestellt und alles erzählt, was ich mit dem Freund letzte Woche erlebt habe. Im Grunde genommen gar nichts Schlimmes. Es hat nur eine Weile gedauert, bis ich es verstanden habe, was passiert ist. Mit Hilfe von Adorno habe ich es schließlich geschafft. - Fortsetzung folgt.