Donnerstag, 9. Dezember 2010

Widerstand

Gestern: Gespräch am Beckenrand. Mit Bernd von der Panzerknackerbande. Wenn der wüsste, dass ich ihn so nenne. Wäre es bestimmt auch in Ordnung, obwohl er noch empfindlicher ist als ich. – Ich bin spät dran. 6.57 auf der Digitalanzeige im hinteren Teil der Halle. Aber Gespräch mit Bernd muss sein. Muss jedes Mal sein, weil er jedes Mal, just wenn ich mich gerade hingesetzt habe und anfange, die Gummibänder meiner Schwimmbrille zu entwirren, angeschwommen kommt. Ich eröffne mit der Bemerkung, dass ich schon beim Betreten der Halle an der Raumtemperatur merke, wie die Temperatur des Wassers sein wird. Heute mal nicht so kühl. Hätte ich gesagt, dass das Wasser mal wieder zu kalt ist, hätte er gesagt, ach was, und hätte mich nass gespritzt. So ist der und deshalb macht es Spaß mit ihm und muss das Gespräch einfach sein, auch wenn ich jetzt so schnell wie möglich ins Wasser will. Denn: wenn die Digitalanzeige 7.45 zeigen wird, müssen wir raus aus dem Becken wegen Wasserball-Training. Bernd war mal Architekt, jetzt bietet er über eine Website die Organisation touristischer Unternehmungen in Berlin an und kann davon leben. Mich interessiert seine Existenz. Deshalb mache ich immer kleine Interviews mit ihm. Heute: Wie ist eigentlich dein Tagesablauf, Bernd? – Ab 8.30 sitzt er am Computer. Sitzt da bis 18 oder 19 Uhr, macht aber mehrere Pausen dazwischen, liest dann Zeitung oder isst was und mittags legt er sich hin und liest in einem Buch. – Was liest du gerade? – Was von jemandem, der heißt I.B.Singer (er sagt Ei, Bi). – Ach ja. Was denn? – Titel ist irgendwas mit feindlicher Liebe. – Feinde, die Geschichte einer Liebe? – Ja. – Ich bin hingerissen und vergesse die Digitalanzeige. Schwärme: Alleine die U-Bahnfahrten im Winter. Von Coney Island in die Bronx. Die überheizte U-Bahn. Wie es riecht in den U-Bahnwagen und den Umsteigestationen. Die Panik im Kopf des Mannes mit dem Doppelleben in Coney Island und in der Bronx. Wir gehen die Charaktere durch: Die polnische Bäuerin, die dem jüdischen Mann das Leben gerettet hat, indem sie ihn versteckt hielt in einer Scheune. Er hat sie geheiratet aus Dankbarkeit, kann aber nicht mit ihr. Und weil er nicht mit ihr kann, hat er eine jüdische Geliebte in der Bronx. Dann taucht eines Tages auch noch die erste Frau des Mannes auf, von der er glaubte, dass sie tot ist, ermordet von den Deutschen, wie die gemeinsamen Kinder. – Wurde übrigens verfilmt der Roman in den 80er Jahren. Von Paul Mazursky, mit Anjelica Huston, der hässlichen Tochter von John Huston, die eine großartige Schauspielerin ist. Film nie gesehen. Müsste mal nachsehen, ob es den gibt in irgendeinem Videoladen. Wenn ja, sage ich dir Bescheid, Bernd. So und jetzt muss ich sofort ins Wasser. – Ich schwimme los, und um meine Mindestdistanz zusammenzukriegen in der verbleibenden Zeit, mache ich gleich mal Tempo, schwimme schneller als sonst. Denke beim Schwimmen an den Plot des Singer-Romans. Geschichte eines Mannes, der zwischen drei Frauen steht. Alles andere als ein Erotomane. Erst verfolgt, jetzt getrieben. Nachhall der Menschheitskatastrophe in einem grotesken Beziehungsdrama. - Wie ging die Geschichte noch mal aus? – Erinnere mich nicht mehr daran. Kann nur heißen, dass die Auflösung des Konflikts keinen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Misere des traditionellen Erzählens: die Konfliktauflösung, der dritte Akt. Ist die Auflösung befriedigend, dann ist sie gelogen, zumindest gezaubert, meist Kitsch. Ist sie ehrlich, dann ist sie, wenn nicht tragisch, undramatisch und deshalb unbefriedigend für das Spektakelbedürfnis. Die befriedigendsten Teile eines Plots sind Anfang und Mittelteil – wenn die Charaktere vorgestellt werden, wenn der Konflikt entsteht, und wenn er sich dann verschärft und die Charaktere sich zeigen und beweisen müssen. Der Rest ist Welt der Oper und man erinnert sich später nicht mehr daran, wie ich mich jetzt nicht mehr erinnere an die Auflösung des Singer-Romans. Während ich mich an die U-Bahnfahrten so gut erinnere, als sei ich dabei gewesen. Und auch nie vergessen werde die rührende Gestalt der Schickse, wie der jüdische Mann die Frau nennt, die ihm jeden Tag Essen in die Scheune gebracht hat. Das Bauernmädchen, das unter Einsatz seines Leben sein Leben gerettet hat, aber schon auch ihren Plan gehabt haben wird: Sie hat sich ihren künftigen Mann rangefüttert, wie die Hexe sich Hänsel und Gretel rangefüttert hat, denke ich und schwimme dabei viel zu schnell - dafür, dass ich aus dem Training bin, zum ersten Mal seit fast zwei Wochen wieder im Hallenbad. Das merke ich, als ich nach der dritten Bahn wende und mit einem Mal einen Widerstand spüre, gegen den ich atme, und es sich gleichzeitig eng anfühlt in meiner Brust. Herz? Wird mir jetzt gleich übel und ich kriege einen Infarkt? Soll ich zum Beckenrand zurück schwimmen? Wenn kollabieren, besser da als mitten im Becken. 50-Meter-Becken. Gerade ziemlich viel los um mich herum. Sehen das die drei Schwimmmeister gleich, wenn einer abtaucht und nicht mehr hochkommt? Wie lange dauert es, bis sie einen rausholen? – Ich schwimme weiter. Wenn ich jetzt einen Herzanfall kriege und tot bin, dann werde ich keine Geldprobleme mehr haben. Angenehmer Gedanke. Beruhigender Gedanke. Gleich wie es ausgeht, ist es gut. Allerdings habe ich eine klare Präferenz für weiter Geldprobleme haben. Deshalb achte ich auch weiter darauf, nicht zu schnell zu schwimmen. Atme immer noch gegen den Widerstand, doch stärker wird er nicht, habe immer noch die Enge in der Brust, aber sie wird nicht enger. Vergesse die Enge, vergesse den Widerstand. Erinnere mich erst wieder daran, als gegen 7.35 der schönste Teil des Frühschwimmens beginnt, wenn wie jetzt nur noch fünf, sechs Schwimmer im Becken sind. Der Widerstand ist weg. Auch keine Enge mehr in der Brust. Also nichts mit Herz. Es war der Widerstand beim Atmen, den ich immer spüre auf den ersten zwanzig Bahnen und wenn der weg ist, kann ich ohne Anstrengung gerade noch mal so lange schwimmen wie zuvor. Nur heute hat sich der (vertraute) Widerstand bedrohlich angefühlt, weil ich mich gleich am Anfang übernommen habe oder am Vorabend zu viele Zigaretten geraucht und/oder weil ich vielleicht mehr auf mein Herz achten sollte. – Ende der Geschichte. Befriedigendes Ende? Für mich natürlich schon. Für die Leser natürlich nicht. Antiklimax. Obwohl es so raffiniert eingefädelt war. Das Unheil bahnt sich ganz harmlos an: Der gern gesehene Bernd, mit dem das Gespräch sein muss, obwohl die Digitalanzeige drängt. Das zu lange Reden aus Begeisterung über den Roman, den er gerade liest. Das zu schnelle Schwimmen, um den Zeitverlust wettzumachen. Der Widerstand. Die Enge. Die Gefahr. Das drohende Unheil. Doch dann: Keine Zuspitzung. Alles nur heiße Luft, die entweicht mit einem Schwall von Geplappere. Eine Pointe könnte das Drama noch retten. Schlusssatz: Doch nur Geduld, lieber Leser. Geduld. Das Unheil nimmt sich nur Zeit. Es wird schon noch kommen. Fortsetzung folgt. – Cliffhanger. Von allen Schluss-Mustern noch immer das ehrlichste. Doch hier zu reißerisch. Das glaube ich mir ja selbst nicht. Will es nicht glauben; siehe oben: meine Präferenz für die Geldprobleme. – Danach habe ich noch lange über die Auflösung von Plots nachgedacht: Befriedigende, unbefriedigende Auflösungen. Das geglückte Ende, das kein glückliches sein muss. Das erzählerische Gewürge in Auflösungen und Schlüssen. Die Kunst des Erzählens als die Kunst des Unehrlichseins. Erzähltechniken des Verrenkens und Hinbiegens. Dagegen die Vorstellung von einer anderen Art zu enden: Einfach aufhören, wenn alles erzählt ist. Schluss. Jetzt.
Isaac Bashevis Singer, Feinde, die Geschichte einer Liebe (Enemies, a Love Story)