Mittwoch, 15. Dezember 2010

Neuschnee

Warum bin ich nicht früher raus gegangen? Es ist gar nicht so kalt. - Der Krebspatientin sieht man es nicht an. Sie kommt daher wie immer. Operation; zehn Tage Klinikaufenthalt. Die Geschwulst war wieder bösartig. Die gleiche Stelle wie beim letzten Mal. Kann sein, dass sie damals was vergessen haben. Sie wird nur eine leichte Chemotherapie machen müssen. Dann kann sie endlich gesund werden. Sie wird nicht sterben. Das sage ich nicht. Aus Zurückhaltung. Aber ich weiß es. – Oleg erzählt einen Witz. Fragt die eine Rosine die andere Rosine: Warum trägst du einen Helm? – Sagt die andere: Ich muss gleich in den Stollen. – Roland lacht. Ich fasse es nicht. Roland will mir den Witz erklären. Nein, nein, ich weiß schon. Christstollen. Oleg erzählt noch einen Witz. Jetzt mit zwei Alzheimerpatienten. Roland lacht wieder. Ich sage: Erstklässlerwitz. Oleg will einen dritten Witz erzählen. Ohne mich. - Die Akazienstraße hoch zur Hauptstraße. So viel Schnee, dass er liegengeblieben ist. Geräumte Pfade auf den Bürgersteigen. Frau mit Kinderwagen und Begleiterin vor mir. – Entschuldigung. ... ENTSCHULDIGUNG! – Erkläre der Frau im Vorbeigehen, dass ich ihretwegen nicht durch den Tiefschnee stapfen will. Begleiterin lacht und sagt: Müssen Sie doch auch gar nicht. - Die Freundlichkeit überrascht mich. Hatte erwartet, angeschnauzt zu werden. Schnee macht gute Laune. - Sparkasse. Aldi. Reichelt. Teeladen. Dort wieder die Verkäuferin mit dem schauspielerischen Talent. Aber nur eine Rolle. Heute sagt sie: Die Leute sind so irritierend. Und das wird jetzt mit jedem Tag schlimmer. Wegen Weihnachten. Müssen Sie mal beobachten. - Mache ich, sage ich und denke, wenn sie einen besseren Text hätte, wäre sie richtig gut. - Beim Hamburger Tabakwarenhändler ist es zu voll. Um die Ecke in den türkischen Tabakwarenladen. Dann kann ich auch noch schnell bei Videoworld rein. Mitarbeiter, den ich noch aus der alten Filiale kenne. Frage nach René. Der ist jetzt bei einer anderen Firma. Andere Branche. Aber gleiches Fachgebiet. Flachbildschirme. Chinesisches Unternehmen. Großhandel. Vertrieb. – Hat er sich verbessert? – Aber unbedingt. Bei dem, was hier los ist. – Was ist bei Videoworld los? – Das kann er mir jetzt nicht sagen wegen Kollegin im Hintergrund. – Erzähle es mir beim nächsten Mal. – Mach ich, sagt er und dann Tschüss und Herr und meinen Nachnamen. Der jetzt also auch. Wen sehen die in mir? Wenn ich ihn duze, kann er mich doch auch duzen. Bei Videoworld würde ich gerne mal eine Zeit lang arbeiten und darüber schreiben. – Vorbergstraße: Das kleinere der beiden Kinder auf dem Schlitten weint. Die Mutter putzt ihm die Nase. Das Kind ist bestimmt nur müde. - Apostel-Paulus-Kirchplatz. Der kleine Junge mit den runden Brillengläsern trottet leise weinend der Mutter hinterher. Die Mutter weit voraus. Alles nicht so schlimm. Der Junge wahrscheinlich auch nur müde nach dem langen Nachmittag im Schnee. Behagliche Vorstellung, ein müdes Kind zu sein. – Durch den Matsch über die Straße. Bei Manuel oben kein Licht. Wenn der mich wieder zu seiner Silvesterparty einladen würde, ginge ich hin. Macht er aber bestimmt nicht. Alleine schon deshalb, weil ich darüber schreiben würde. Geschäftsidee: Laden Sie mich zu Ihrer Silvesterparty ein und ich schreibe darüber! Mehr Geschäftsideen. Der freie Inhalt im Internet muss irgendwie finanziert werden. Das Geld ist da. Es muss nur kanalisiert werden. Für die Inhaltsarbeit wurde noch nie bezahlt. Die Verlage werden dafür bezahlt, dass sie Anzeigen in die Welt bringen. Mit dem Geld, das sie damit verdienen, bezahlen sie die Journalisten.  - Professor da. Tess weg? Umgekehrt war besser. - Einkauf auspacken. Die weinenden Kinder vorhin. Meine Freude, wenn ich Kinder sehe. Meine Kindheit muss eine gute Zeit gewesen sein. Warum konnte ich es dann nicht erwarten, erwachsen zu werden? – Später: Tess doch da. Kleines Glück. Aber alleine. War ich als Kind auch. Deshalb wollte ich so schnell erwachsen werden. Es hat nichts genutzt.