Freitag, 3. Dezember 2010

Adorno

Nachdem ich lange genug verbittert gewesen war über den Freund und endlich dazu bereit, mich auch einmal in seine Lage zu versetzen, da ist mir sofort, zu meinem Erstaunen sofort die folgende Anekdote eingefallen. Und da habe ich das Verhalten des Freundes mit einem Mal verstanden. - Die Anekdote:  Adornos Sekretärin wohnte in der Nachkriegszeit während ihrer Beschäftigung beim Institut für Sozialforschung bei uns (...) Adorno liebte es nicht – ja, er schien sogar Angst davor gehabt zu haben –, dass Besucher ihn unangemeldet zu sprechen wünschten. Eines Tages erschien ein mit ihm befreundeter amerikanischer Kollege bei der Sekretärin im Vorzimmer und bat um ein Gespräch mit dem Professor. Auf Anweisung versuchte sie ihn abzuwimmeln, was ihr aber erst nach einer lautstarken Diskussion gelang, die Adorno wohl mitgehört haben musste. Als sie danach ins Chefzimmer ging, um Vollzugsmeldung zu machen, schien der Raum leer zu sein. Adorno hatte sich im Schrank versteckt und kam erst wieder raus, als die Luft rein war. Mein Mann und ich wollten es damals nicht glauben, dass jemand, der durch seine revolutionären Thesen die Grundwerte in Frage stellte, vor den kleinen Alltagsproblemen kapitulierte.. . (*) – Kritik der Anekdote: Völlig falsche Deutung, dass Adorno sogar Angst gehabt haben könnte vor dem massiven Auftreten des amerikanischen Kollegen. Theodor W. Adorno hatte vor nichts und niemandem Angst. Er liebte es nicht ... , dass Besucher ihn unangemeldet zu sprechen wünschten. Damit ist doch alles gesagt. Deshalb, weil er den Kollegen auf keinen Fall sehen wollte und weil er fest entschlossen war, seinen Willen durchzusetzen, sich zugleich jedoch nicht sicher sein konnte, dass seine Sekretärin dem Druck des amerikanischen Freundes standhalten würde, deshalb und nur deshalb hat er sich in dem Schrank versteckt. Wäre der Kollege in sein Zimmer eingedrungen und hätte auf der Suche nach Adorno die Schranktür geöffnet, auch dann hätte Adorno nicht vor den kleinen Alltagsproblemen kapituliert. Dann hätte er nämlich einfach die Augen geschlossen und so lange die Luft angehalten, bis der Amerikaner aufgegeben und den Rückzug angetreten hätte. - Adorno wollte von dem Kollegen nicht aufgesucht werden. Er wollte nicht mit ihm sprechen. Das hat er durchgesetzt.
(*) Quelle: Eckhard Henscheid, Wie Teddy sich einmal im Schrank versteckte / Von der Dignität der Anekdote: Humor bei Adorno 
Erzählt wird die Anekdote auch von Wilhelm Genazino in seinem Essay Der Professor im Schrank in: Der gedehnte Blick. München 2004