Sonntag, 5. Dezember 2010

Vater

Anruf bei Hiob. Mittwochabend war das. Den ganzen Tag an den Texten über den Freund geschrieben. Zum Schluss noch auf den Wendepunkt mit der Adorno-Anekdote gekommen. Der gesuchte versöhnliche Ausgang. Geholfen hat es an diesem Abend nicht. Bedürfnis, mit einem Menschen zu reden. Einfach nur quatschen, Peter, wenn du Zeit hast. Was macht der Fuß? – Wird trotz Penicillin-Tabletten, drei Stück pro Tag, nicht besser. Geschwollen, gerötet. Gehen ist eine Qual. – Da solltest du mit dem gesunden Fuß mal deinem Arzt in den Arsch treten. – Am Arzt liegt es nicht. Es liegt an der Diabetes. Schlechte Wundheilung. Gerade an den Füßen. - Bei dir kommt aber derzeit auch alles zusammen. Dagegen geht es mir blendend. – Ja, ich habe ziemlich viel Pech zur Zeit. – Wir reden über meinen Kram. Ich kündige an, dass ich Ende der Woche mit ihm über seinen Sohn reden möchte, um über seinen Auszug zu schreiben. Aber heute nicht. Bin nicht aufnahmefähig. Heute einfach nur quatschen über alles Mögliche. – Dann fängt er doch an, über den Sohn zu sprechen. Ich unterbreche ihn: Peter, am Wochenende. - Kurz darauf das Gleiche noch mal. Und als wir uns bereits verabschieden: Nur noch das. Ganz kurz. Wir hatten eine Hausgeburt. Die Hebamme war die Frau von Klaus Hartung, dem ehemaligen ZEIT-Redakteur, der jetzt in der Bergmannstraße wohnt (und häufiger vorkommt in Peters Erzählungen). Zwei Stunden nach der Geburt lag der Sohn dann in dem Bett von Susanne und Peter. Und von da an lag er zwischen ihnen, jede Nacht. Bis zu Susannes Tod sieben Jahre später. Der Sohn war dabei, als seine Mutter gestorben ist. Zu Hause. Auch wenn das jetzt komisch klingt, in dem Bett. Danach haben Peter und der Sohn weiter nebeneinander geschlafen in dem Bett. Bis der Sohn zwölf war. Da war es allerhöchste Zeit, dass er sein eigenes Zimmer bekommt und sein eigenes Bett. Anfangs hat er sich gesträubt dagegen, wollte in der Nähe seines Vater bleiben. Seine Anhänglichkeit war so groß, die Beziehung der beiden so liebevoll, dass Peter manchmal dachte: wenn uns einer vom Jugendamt zuguckt, dann gerate ich in den Verdacht, eine pädophile Beziehung mit dem Jungen zu haben. Einige Jahre lang ist der Sohn in eine Therapie gegangen, um über den Tod seiner Mutter hinweg zu kommen. Außerdem war er Legastheniker. Doch dann hat er sich ganz normal entwickelt. Abitur gemacht. Zu studieren angefangen. Hatte Freundinnen. Hat mit seiner Freundin zusammengewohnt in seinem Zimmer und Peter hat für die beiden gekocht. Er war immer da. Die ganze Zeit. 25 Jahre lang. Und jetzt geht er. – Peter weint. Und weinend redet er weiter. Erzählt, dass der Sohn jetzt erst mal untergekommen ist in einer Wohnung am Kleistpark bei zwei Frauen, die enge Freundinnen seiner Mutter waren, und am Montag, also morgen, will er sich in einer WG vorstellen. Natürlich versteht er, dass der Sohn ausziehen wollte. Trotzdem tut es weh, dass er jetzt gegangen ist. Nachdem er 25 Jahre bei ihm war. Vom ersten Tag, von seiner Geburt an – Das verstehe ich, sage ich. Nicht, um ihn zu trösten. Ich verstehe es wirklich. Es ist mir auch nicht peinlich, dass er weint, und ich bin nicht hilflos demgegenüber. Ich sage nur immer wieder: Das verstehe ich, Peter. Das verstehe ich gut. – Und ich sage auch, was ich darüber denke: Dass es ganz besonders schmerzhaft sein muss für ihn, dass er gerade jetzt geht, da Peter in der vielleicht schwierigsten Phase seines Lebens ist und der Sohn ihn unterstützen könnte alleine nur damit, dass er da ist. - Aber gerade wegen dieser schwierigen Phase ist der Sohn gegangen. Weil er es nicht mehr ertragen hat, mit ansehen zu müssen, wie sein Vater dahinsiecht, wie Peter selbst es nennt. Der Zustand, in dem Peter den Sohn so sehr bräuchte, das ist der Zustand, den der Sohn nicht mehr mit ansehen konnte. – Wir ertragen es nicht, unsere Eltern schwach zu sehen, sage ich. Platitüde, und trotzdem ist es so. - Peter will nicht, dass ich den Eindruck bekomme, der Sohn lasse ihn hängen. Zwei-, dreimal die Woche, sagt er, kommt der Sohn vorbei und kauft für ihn ein. Sie sprechen auch ganz offen miteinander. Der Sohn hat ihm erklärt, dass es too much für ihn ist, seinen Vater so zu erleben wie jetzt gerade. Und die Freundin des Vaters, die der Sohn schon seit vielen Jahren kennt, schon kannte, lange bevor sie mit Peter zusammen war, die ist ihm mit einem Mal auch zu viel. - Peter hat ihm gesagt, wie hart es ihn trifft, dass er ausgezogen ist. Aber er macht ihm keine Vorwürfe. Er will ihn nicht unter Druck setzen. Er soll sich nicht schlecht fühlen bei der Entscheidung, die er getroffen hat und die auch richtig ist. Wegzugehen von zu Hause. Endlich. Mit 25 Jahren. Erstaunlich genug, dass er so lange bei ihm geblieben ist. - Das zeigt, was für ein gutes Verhältnis ihr zueinander hattet, sage ich. - Und das haben sie immer noch, sagt Peter. - Nur augenblicklich belastet durch die Lebenskrise des Vaters, in der es so wichtig für ihn wäre, den Sohn in seiner Nähe zu haben. - Also warum jetzt? Warum konnte er nicht warten mit seinem Auszug, bis Peter sich wieder gefangen hat? – Ich würde gerne mal mit dem Sohn reden. Weiß allerdings nicht, ob Peter das recht ist und vor allem, ob der Sohn das will. Vor ein paar Jahren habe ich ihn mal zufällig in der U-Bahn getroffen. Wir sind zusammen umgestiegen und er ist hinterher noch ein Stück mit mir gegangen, obwohl er einen anderen Weg hatte. Ich war überrascht, wie zugewandt er mir gegenüber war und wie viel er von sich erzählte. Dieses Frühjahr habe ich nach längerer Zeit mal wieder mit ihm gesprochen. Ihn angerufen wegen meiner Hacker-Geschichte. Da hat er mir den Tipp mit der Sprechstunde des Chaos Computer Clubs gegeben. Bei meinem zweiten Anruf war er jedoch so spröde und zurückhaltend, dass ich hinterher eingeschnappt war und dachte: Nä, den frage ich nichts mehr. – Andere Situation jetzt. Vielleicht ist er jetzt wieder offener. So wie damals in der U-Bahn. Vielleicht kann ich mit ihm reden, so wie ich mit seinem Vater rede. Um zu verstehen, warum es jetzt und so plötzlich sein musste, dass er auszieht. Um zu verstehen, was in ihm vorgegangen ist, als er das Elend seines Vaters gesehen hat. Mit ihm reden, um darüber zu schreiben. Weil es mich berührt.