Montag, 13. Dezember 2010

Rossini

Ein Leser, der den Blog immer gleich nach dem Aufstehen liest, schreibt mir unter dem Betreff Tess: Willst du damit sagen, du bist ihr endlich wirklich begegnet? – Ich antworte: Was ist wirklich? – Heimlichkeit ist Heimlichkeit, selbst für Dich. – Außerdem, um daran wieder einmal zu erinnern: Die Tess und ich, wir sind uns bereits mehrere Male nicht nur wirklich, sondern tatsächlich begegnet. Und weil wir das jedes Mal vermasselt haben, müssen wir jetzt hundert Jahre lang uns nacheinander sehnen. Und wenn wir das schaffen, ohne in unserer Sehnsucht nachzulassen, dann werden wir uns eines Tages so begegnen, dass es kein Ende mehr haben wird. – Der frühe Leser ist Peter. Von ihm gab es dann noch eine zweite Mail, mit dem Betreff Sonntag. Die gebe ich wieder in Das alte Biest, weil sie eine Korrektur, Ergänzung und Weiterführung meines Posts von gestern ist – und weil es mich freut, dass der Peter so einen guten Sonntag hatte. – Mein Sonntag ist zusammengefasst in dem Moment, als ich am Abend rauchend und Bier trinkend in meiner Küche stand, dabei den dritten Akt von Rossini, Semiramide hörte, den Blick auf den Topf mit den im siedenden Wasser garenden Nudeln gerichtet hatte und vor mich hinbrütend dachte: Alles hängt nur von mir ab. Und wie gut ist es und wie überraschend, dass ich überhaupt nicht mehr in der Lage bin, Selbstmitleid zu haben. Selbst wenn ich es wollte, es würde mir nicht gelingen, mich selbst zu bemitleiden. Wie jemand, der zu lange geweint hat, keine Tränen mehr hat, so habe ich kein Selbstmitleid mehr. – Für die Nudeln ist das sehr gut ausgegangen. Al dente, wie es besser auf den Punkt nicht geht, waren sie. - Später, als die Rossini-Oper zu Ende war, ist mir der gute Kalauer von Claudias Bruder Bernhard eingefallen, weil es sich in Semiramide gerade mal wieder so angehört hatte wie der Kalauer behauptet: Mozart ist nicht gestorben, nachdem er sein Requiem komponiert hatte, sondern hat hinter einem Grabstein versteckt seinem vorgetäuschten Begräbnis zugeschaut, um sich danach aus Wien abzusetzen und später in Italien unter dem falschen Namen Gioachino Rossini Opern zu komponieren, nur noch Opern, und es bis zum Ende seines Lebens zu genießen, nicht mehr Wolfgang Amadeus Mozart sein zu müssen. Dieses Muster. Diese Vorstellung. Nicht mehr der sein zu müssen, der man ist – durch zufällige, zum Teil widrige Umstände geworden ist. Aus seinem Leben zu verschwinden und fortan nur noch der zu sein, der man sein möchte.
Bitte beachten: es gibt einen zweiten Post von heute.