Donnerstag, 4. November 2010
Peter 2
November, Teil 2; besserer Teil der Novembergedanken: Von niemandem etwas wollen. Nichts erwarten. Keine Enttäuschungen. Keine Unzufriedenheit. Keine Kritik. Die Leute wahrnehmen können, wie sie sind. Letzte Leidenschaft: Neugier auf Menschen. Interesse, Sympathie, Empathie.– Nichts wollen? Das geht nicht. Aber nichts erwarten. Das sollte gehen und damit auch: Keine Enttäuschungen. Keine Unzufriedenheit. Keine Kritik. Die Leute wahrnehmen können, wie sie sind. – Anruf. Nur ganz kurz, Peter, ich habe noch eine Bitte. Und er gleich wieder weiter da, wo wir aufgehört haben vor einer Stunde, als er mich angerufen hat. Er weiter völlig aus dem Häuschen wegen seines Erfolges bei Nina. Der schwer zugänglichen Nina, der Dreizehnjährigen mit dem komplizierten Verhältnis zur Mutter und dem katastrophischen Verhältnis zum überbeschützenden Vater. Bei dem lebt sie und von dem soll sie möglichst ferngehalten werden jetzt, nachdem sie aus der Psychiatrie raus ist, soll sie in eine therapeutische Wohngemeinschaft ziehen (sollte ich vielleicht auch mal machen). Das wollte sie nicht. Aber Peter hat sie jetzt nach zwei Wochen und stundenlangen täglichen – nicht Gesprächen – Chats über Skype davon überzeugt. Und am Schluss hat sie gesagt, ich liebe dich. Das erzählt er mir jetzt schon zum dritten Mal. Dass die schwer zugängliche dreizehnjährige Nina zu ihm gesagt hat, ich liebe dich. Und dann, ich weiß nicht zum wie vielten Mal schon im letzten halben Jahr, erklärt er mir, dass ich mich unbedingt bei Skype anmelden soll. – Ja, ja, mache ich, habe ich vor. Ich muss nur mal in einen Saturn-Laden kommen, um mir Mikrophon und Kamera zu kaufen. – Kostet nur 18 Euro. – Ich weiß. Hast du mir schon gesagt. – Brauchst du aber gar nicht. Chatten kannst du auch so. – Aber ich kenne niemanden, mit dem ich chatten könnte. – Mit mir kannst du chatten. – Wozu? Wir können doch telefonieren. – Viel zu teuer. – Ich habe eine Flatrate. – Habe ich auch. Aber … . – Weiß nicht mehr, was auf das Aber folgte, ist auch egal. Denn es ging ihm nur darum, thematisch in der Nähe des Moments zu bleiben, der ihn so glücklich gemacht hat, des Moments, als Nina - die süße, die wirklich süße Nina, tolles Mädchen, aber sehr schwer zugänglich, und der Vater ist eine Katastrophe -, als Nina zu ihm gesagt hat, um genau zu sein, geschrieben hat: ich liebe dich. – Ja, Peter, das ist schön. Kann mich nicht erinnern, wann zuletzt das jemand zu mir gesagt hat. Will ich sagen, komme ich aber nicht dazu, weil jetzt ist er bei meinem Blog. Wie ist er jetzt darauf gekommen? Wahrscheinlich, weil er will, dass das im Blog steht, dass Nina zu ihm gesagt hat, ich liebe dich. Den Blog liest er jeden Vormittag und gerne. Nur manchmal, das muss er mir mal sagen …. – Oh nein, Peter! Bitte! Sag nichts über den Blog. – Doch! Die Klugscheißerei. Deine Klugscheißerei. Ich würde dir am liebsten manchmal eine klatschen wegen deiner Klugscheißerei. Aber wahrscheinlich kannst du da gar nichts dafür, weil du einfach so bist. – So ist es, denke ich, und sage es lieber nicht, weil ich jetzt zu meiner Bitte kommen will und dann den Anruf beenden. Doch davon sind wir weit entfernt, denn jetzt ist er bei seinem Schicksal: anderen Leuten helfen zu können, nur sich selbst kann er nicht helfen. Das hatten wir im Anruf zuvor schon und das habe ich ihm schon vor zwei Wochen gesagt, wie ich das sehe: dass die Helferei nach außen, zur Welt hin, großartig ist und wertvoll, jedoch zu seiner Person hin - da muss er sich darüber im Klaren sein - ist sie nichts anderes als narzisstisches Gew****e – zurückhaltender formuliert, eine extrem riskante Art der Selbstbefriedigung (siehe völliger Zusammenbruch seiner Persönlichkeit). Das wiederhole ich jetzt lieber nicht. Ich käme auch gar nicht dazu. Denn er lässt mich keinen ganzen Satz sagen, so aufgedreht ist er. – Kannst du nicht wieder mit dem Trinken anfangen? kriege ich gerade mal als launige Bemerkung durch. Hat er wahrscheinlich aber gar nicht gehört. Er ist immer noch bei seinem Schicksal oder, wie er es ausdrückt: was ihm da passiert ist in seinem Leben. Und darüber kann ich ruhig mal schreiben. – Darüber soll ich schreiben? – Ja, warum nicht? Das ist Leben. – Du willst, dass ich über all das schreibe? – Ja, klar. – Nicht mit Er, sondern mit Peter? – Ja. – Dass sie dich in der psychosomatischen Klinik weggeschickt haben, weil du beim Ausfüllen der Aufnahmeformulare einen solchen Zitterich gekriegt hast, dass sie sofort gemerkt haben, was mit dir los ist, und dir gesagt haben, du sollst erst mal eine Entgiftung machen, bevor du wiederkommst. – Langer Satz. Hat er mich den tatsächlich sagen lassen? Auf jeden Fall findet er das gut, wenn ich darüber schreibe. Und der Vollständigkeit wegen auch erwähne, dass er am Dienstag in die anthroposophische Klinik gegangen ist für zehn Tage zur Entgiftung und gleich gestern wieder abgehauen, wegen der drei alten Männer in dem Zimmer und dem Dreck auf den Gängen und der Unfreundlichkeit des Pflegepersonals. Und dass er das jetzt selbst machen will mit seiner Entgiftung und seit Sonntag keinen Schluck Alkohol (sein Alkohol ist Weißwein) mehr getrunken hat. – Hast du denn wenigstens ein Medikament, das du im Notfall nehmen kannst, damit du nicht in ein Entzugsdelirium fällst? – Nein. Wenn ich merke, dass es eng wird, dann trinke ich eben einen Schluck Wein. – PETER! – Dass er das will, dass ich über das alles schreibe. Ich habe seine Geschichte bewusst ausgeblendet – seit zwei Wochen, seit sie ihn weggeschickt haben bei der Aufnahme in die psychosomatische Klinik, weil Alkoholismus interessiert die dort nicht. Mich auch nicht. Deshalb wollte ich nicht darüber schreiben, um die Wahrheit zu sagen. Nicht nur aus Diskretion habe ich nicht darüber geschrieben. Obwohl das auch ein Grund war. Aber Diskretion interessiert Peter nun wieder nicht. Er will, dass ich weiter über ihn schreibe. Mache ich. Fortsetzung folgt. - Die Bitte war, er möge doch mal den Text auf neobooks lesen (siehe Heikel) und mir sagen, wie er ihn findet. Vielleicht kommen wir dann auch noch mal auf das Thema Klugscheißerei zurück.