Das nächste Mal, dass Peter großes Glück hatte, das war Anfang der 70er Jahre. Allerdings war das kein Glücksfall in der Art wie die zufällige Begegnung mit Wolfgang Mischnick. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass Peter davon jemals so geredet hat, dass es ein Glück für ihn gewesen ist. Was daher kommt, dass er sich den Anderen, die dieses Glück nicht hatten, bis heute verbunden und nahe fühlt. Die Anderen, das waren Mitglieder der Wohngemeinschaft in dem Haus im Mannheimer Vorort Feudenheim, in dem Peter Anfang der 70er Jahre wohnte. Die Mitglieder der WG standen dem Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg (Aus der Krankheit eine Waffe machen) nahe und das SPK wiederum stand der Roten Armee Fraktion nahe. Ein Mitglied der Wohngemeinschaft - Klaus Jünschke - hat später bei einem Banküberfall einen Polizisten getötet. Ein anderes Mitglied der Wohngemeinschaft - Siegfried Hausner - hat sich später bei der Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm beim Zünden einer Bombe tödlich verletzt (*). Hat Peter damals vor der Entscheidung gestanden, sich ebenfalls der RAF anzuschließen? - Habe ich ihn das je gefragt? Wenn, dann habe ich die Antwort vergessen. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es so war, dass sie ihm nie angeboten haben mitzumachen. Weil er einfach nicht der Typ dafür ist, mit geladener Schusswaffe rumzulaufen oder mit Sprengsätzen zu hantieren. Weil ihm dazu die Verbissenheit fehlt. Weil er dafür zu leichtsinnig ist. Nicht verbohrt genug. Weil er dafür zu viel Humor und zu viel Verstand hat - die Art von Verstand, die einer entwickelt, wenn er nicht zum Beispiel in einem protestantischen Pfarrhaus, sondern wie Peter im Haushalt einer intakten Arbeiterfamilie aufgewachsen ist. Später in Berlin, wo er sein Studium beendete, hat Peter bei der Roten Hilfe mitgearbeitet und weitere namhafte ehemalige und zukünftige RAF-Mitglieder kennengelernt. Und dann war auch das vorbei. Dann hat er sich in seinem Beruf als Sozialarbeiter engagiert, hat irgendwann Susanne getroffen, hat mit ihr einen Sohn bekommen und ihn aufgezogen, hat allerdings nie aufgehört, von der RAF und den Leuten aus der RAF, die er kannte, zu erzählen. Die RAF, die RAF, die RAF. Der Peter und die RAF. Der Peter und seine Hippie-Zeit. Der Peter und die RAF. Nachdem wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatten und uns dann wieder regelmäßig trafen, weil ich ihn für eine Recherche zu seiner Sozialarbeiter-Tätigkeit befragt habe, konnte ich es einfach nicht glauben, wie er immer noch und immer weiter bei jeder Gelegenheit von der RAF anfing. Wie die Männer einer anderen Generation, die so gerne von Stalingrad erzählt haben und von der letzten Ju 52, mit der sie ausgeflogen worden sind. Stalingrad und die RAF - deutsche Mythologie im Wandel der Zeiten. Mit solchen Vorstellungen habe ich mir die Zeit vertrieben, während ich mit versteinerter Miene Peters Erzählungen zuhörte. Das ewige Gerede über die RAF, das Verhaftetsein in der Vergangenheit, die Selbststilisierung damit, ab irgendwann konnte ich es nicht einmal mehr mit versteinerter Miene anhören. Und seine ungebrochene Begeisterung über sich selbst habe ich auch nicht mehr ertragen; vielleicht auch aus Neid, weil inzwischen meine Begeisterung über mich nicht mehr so ungebrochen war. Nach Peters Krebserkrankung haben wir wieder Kontakt aufgenommen. Als er bei unserem ersten Treffen gleich wieder mit der RAF anfing, habe ich so laut aufgestöhnt und vor mich hingeflucht, dass er seither das Thema mir gegenüber vermeidet. Wir sprechen jetzt über mich und über ihn. Wegen seiner Persönlichkeitskrise mehr über ihn als über mich. Wir sind wieder gute Freunde (und wenn er diesen Text verkraftet, bleiben wir es auch). Und wir sprechen ausschließlich über die Gegenwart. Das ist der Riesenfortschritt im Gespräch mit Peter. Das ist sein Krankheitsgewinn: dass er endlich ganz in der Gegenwart angekommen ist.
(*) Aus einem Mail-Text von Peter: Lutz Taufer hat in den SPK-Zeiten (bis Mai 71) eine zeitlang bei uns in Feudenheim gewohnt, lebt jetzt nach seinem Lebenslänglich in Brasilien, glaube ich. Ein Anderer, der in Stockholm 1975 mitgemacht hat, war mein persönlicher Freund, damals kaum 20 Jahre alt: "Snoff" Sigfried Hausner, hat sich in Stockholm selber in die Luft gesprengt und starb bei einer unverantwortlichen Aktion, bei der Überführung nach Deutschland. Alles so Sachen, über die man manchmal nachdenken muss.