Montag, 15. November 2010
Unbewusst 1
Einer ist Schriftsteller; hat ein paar kleine Literaturpreise bekommen oder gewonnen. Stephan Wackwitz. Schreibt in der taz: Die Neuentdeckung eines Dinosauriers Schreibt einen Artikel über Zettel´s Traum , das Spätwerk von Arno Schmidt, das jetzt bei Suhrkamp in einer neuen Ausgabe erscheint. Schreibt einen Text, der auch jemandem gefallen könnte, der sich nicht für Arno Schmidt und vielleicht nicht einmal für Literatur interessiert – so lebendig ist der Text geschrieben, so anschaulich, so fesselnd. Toller Text. Erzählung von einem Leseerlebnis. Aber dann - mittendrin - passiert es! Es ist wie ein leises Furzen. Was war das eben für ein Geräusch? Egal. Weiter. Interessant. Spannend. Macht Spaß. – Dann wieder dieses Geräusch. Ein leises Furzen? Keine Frage. Es war ein Furzen. Kommt vor. Ist menschlich. Weiter. Interessant. Spannend. Macht Spaß. – Doch dann ein lauter knatternder Furz! Und jetzt riecht es gleich so was von nach Mensch aus dem Darm, dass man böse wird, weil man denkt, dass so viel Zivilisation doch möglich sein sollte, dass einer furzt, wenn er mit sich alleine ist, und nicht andere Menschen mit dem Geruch seines Darminneren belästigt. - Gerade neulich erlebt in der U-Bahn, U 7. Vollbesetzter U-Bahnwagen. Plötzlich ein Gestank, dass es mir den Atem verschlagen hat. Merkwürdig dabei: Alle Fahrgäste um mich herum behalten ihre verschlossenen Mienen aufgesetzt, weil man das so macht in der U-Bahn, eine verschlossene Miene, selbst in einem solchen Moment. Deshalb kein Austausch von Blicken derer, die von sich wissen, dass sie nicht gefurzt haben. Perfekter Täterschutz durch die Gemeinschaft. Muss er oder sie nur genau so eine verschlossene Miene machen wie die anderen und keiner ist es gewesen. – Bild. Metapher. Nicht so schlimm, kein Geruchstext. Gekommen auf das Bild bin ich, weil da, wo dem Autor seine Peinlichkeit passiert im Artikel, weil er da zugleich so etepetete, so geisteselitär vornehm tut und herablassend gegenüber dem Arno Schmidt und seinem schreiberischen Sichgehenlassen im Menschlichen, weil er da so tut wie einer, der sich empört über das Furzen eines anderen, tatsächlich aber war er selbst es, der gerade gefurzt hat. Was jetzt überzogen ist, denn heuchlerisch ist er nicht. Während er sich über das Furzen des Anderen beschwert, das aber gar kein Furzen ist, sondern nur eine gewagte schriftstellerische Aktion, während dessen kriegt er gar nicht mit, wie er selbst einen Furz nach dem anderen lässt. – Als das passiert, geht es im Text gerade darum, dass Arno Schmidt nicht nur Joyce, sondern auch Freud gelesen und Vorstellungen der psychoanalytischen Theorie produktiv gemacht hat für sein Schreiben – formuliere ich mal so vage, weil ich nicht weiß, was Arno Schmidt genau gemacht hat. Ich kenne sein Spätwerk nicht und Stephan Wackwitz konnte ich nicht mehr folgen von dem Moment an, da er in seinem Artikel seine Unvertrautheit mit der Psychoanalyse – ja was? – zu erkennen gegeben hat? – Das hat er natürlich nicht getan. Getan hat er: So zu tun, als wüsste er über Psychoanalyse genau so Bescheid wie zum Beispiel über die Ausnahmestellung von Arno Schmidt im deutschen Literaturbetrieb der 50er Jahre. – Es geht los: Freud war bekanntlich nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, dessen Werke novellenartig und romanhaft organisiert sind, schreibt er und hat so was von recht. Es kann gar nicht oft genug wiederholt werden, was für ein bedeutender Schriftsteller Freud war, um Menschen dazu zu bringen, seine Werke zu lesen – weil es nämlich eine Lust ist, eine der ganz großen Leseerfahrungen, die man machen kann in der deutschen Sprache. Nur, dass seine Werke novellenartig und romanhaft organisiert sind, das ist mir neu. Das habe ich nicht bemerkt, halte ich auch für einen philologischen Prunkschnitzer, das zu behaupten. Hat er wahrscheinlich irgendwo aufgeschnappt. These, über die jemand mal promoviert oder sich habilitiert hat. Oder Beleg dafür, dass der Autor des Artikels die Lust an den Texten Freuds nur vom Hörensagen kennt? Weil er nie miterlebt hat, wie spannend Freud von seinen Gedankenbewegungen zu erzählen weiß und sie deshalb nicht spannend machen muss mit textdramaturgischen Taschenspielertricks. – Weiter: Freud ist also nicht nur ein bedeutender Schriftsteller. Sondern er wies, vor allem in der "Traumdeutung", nach, dass sich das Unterbewusstsein literarischer Techniken - der Verdichtung und der Verschiebung - zu dem Zweck bedient, seine Inhalte, Wünsche, Triebregungen durch die Zensur des Wachbewusstseins zu schmuggeln und als Kulturleistungen zu kostümieren. - Steht da Unterbewusstsein? – Da steht Unterbewusstsein. Das kann vorkommen. Umgangssprachliche Ausdrucksweise. Laienhaft. Eigentlich banausisch. Aber er nimmt es nicht so genau, will es vielleicht nicht so genau nehmen und im übernächsten Absatz steht auch korrekt Sprache des Unbewussten. Doch dann drei Absätze weiter schon wieder, sozusagen der zweite leise Furz: Das in "Zettel's Traum" operierende Unterbewusste ist von einem niederschmetternden Mangel an Raffinesse, Fantasie, Variationsfähigkeit, Geist und Esprit. – Unterbewusste. Unterbewusstsein. Es gibt kein Unterbewusstes und kein Unterbewusstsein. Es gibt nämlich auch kein Über- oder Oberbewusstsein; mehr als bewusst geht nicht. - Fortsetzung folgt.