Freitag, 19. November 2010

Unterwegs

Nach der geglückten Bibliothek-Aktion in Mitte zu Fuß zurück, um beim Gehen nachdenken zu können und was anderes zu erleben als den Anblick verschlossener Mienen von U-Bahn-Gesichtern. Doch beides zusammen geht nicht. Großer Mann Mitte 30 und seine kleine Frau kommen aus dem Tiergarten, während ich an der Fußgängerampel stehe gegenüber der Stauffenbergstraße. Mann fragt mich nach dem Weg zum Kottbusser Tor. Zu Fuß oder mit der U-Bahn? Am besten mit der U-Bahn, entscheide ich für ihn und erkläre den Weg zur nächstgelegenen Station der U1; Kurfürstenstraße. Ich spreche erst ins Konzept, dann wiederhole ich zusammengefasst in Reinfassung. Er fragt, ob sie nicht einfach mit mir gehen können? (Wie kommt er darauf, dass ich den gleichen Weg habe? - Wie rührend, dass er das gefragt hat, denke ich jetzt). – Ich gehe sehr schnell. Wahrscheinlich zu schnell für Sie beide, sage ich, vermeide dabei den Blick auf die kurzen Beine der kleinen Frau und füge hinzu: Wenn ich den Weg jetzt in einer dritten Version beschreibe, werden Sie ihn problemlos finden. - Ich beschreibe den Weg noch mal in einer deutlich verbesserten Fassung. - Die Ampel zeigt Grün. Wir überqueren zusammen die Straße. Ich frage: Was wollt ihr eigentlich am Kottbusser Tor? Das ist eine völlig abgefuckte Gegend. – Er: Wir wollen uns Kreuzberg angucken. - Sie: Wir sind eben die etwas andere Art von Touristen. – Da gibt es aber bessere Plätze in Kreuzberg, sage ich und will schon anfangen, die besseren Plätze zu nennen, da fällt mir ein, dass ich kein Reiseführer bin, sondern jemand, der schnell zu Fuß unterwegs ist und in Gedanken. Während ich schnell weiter gehe, frage ich mich: Was wollen die beiden am Kottbusser Tor? Wollen sie Drogen kaufen? Oder nur Drogenkriminalität gucken? Er mit seinen roten Pausbacken? Sie mit ihrer gestrickten Mütze?  Die etwas andere Art von Touristen?  - All das und noch viel mehr hätte ich erfahren, wenn ich nicht so stur gewesen wäre und die beiden mitgenommen hätte bis zum Nollendorfplatz, um sie dort in die U1 einsteigen zu lassen. Falscher Reflex. Wieder mal falscher Reflex. Zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Heute allerdings nicht verwunderlich nach dem Schreiberlebnis vom Vormittag. Séance. Geisterbeschwörung. Ich spinne? Ich spinne zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine Idee aus. Heißt: Ich hatte eine und ich folge ihr. Gestern hat das in die Depression geführt. Heute zu einer überraschenden Wendung. Antwort auf eine Frage, die ich schon kannte, von der ich aber nicht wissen konnte, dass sie die richtige Antwort ist. Gestern noch beklagt das Ausbleiben von Antworten, heute eine Antwort bekommen. Weil ich die richtige Frage gestellt habe. Weiß noch nicht, was ich mit der Antwort anfangen soll. Denn, wenn es so ist, worauf ... ? Nicht mehr. Ich habe eine Antwort bekommen. Ich bin euphorisiert. Und ich fange jetzt zu üben an, nicht mehr so in mich gekehrt zu sein.  Genthinerstraße. Älterer Mann vor mir mit Zipfelmütze. Frau kommt ihm entgegen, höhnt: Immer aufpassen, dass die Ohren gut warm bleiben. – Ich beim Überholen von Mann: Kennen Sie die Frau? – Er: Leider. – Ich im Weitergehen: Dachte schon, das ist eine völlig fremde Person, die Sie angesprochen hat, so wie ich Sie jetzt anspreche unbekannterweise. - Darauf sagt er lieber nichts mehr, kneift nur die Augen zusammen zu einem prüfenden Blick, um festzustellen, ob es sich bei mir um einen Irren handelt. – Kurz darauf, ich erkenne sie schon von weitem an ihrem schönen Lächeln: Colette, so schnell unterwegs wie ich, sie zum Elterngespräch im Französischen Gymnasium, ich auf dem Weg nach Hause. Vor der Haustür Bernd mit frisch geschnittenen Haaren, um zehn Jahre verjüngt. Im Treppenhaus die geschätzte Mitbewohnerin, die aus aktuellem Anlass Private Krankenversicherung sagt und schon sind wir bei der Beitragserhöhung am 1. Januar und ich bei meinen Überlegungen zur Nichtmehrfinanzierbarkeit der Beiträge: Nachdem das Geschäftsmodell der Privaten Krankenversicherungen am Ende ist, sie es aber nicht eingestehen, kann uns Beitragszahler nur noch eine Seuche retten, die die Zahl der Versicherten so weit dezimiert, bis die Kasse wieder stimmt. - Die Gesprächspartnerin ist begeistert von dieser Idee und erinnert sich daran, dass von der Aberglaubensprognostik tatsächlich was mit Seuchen vorgesehen ist für das Jahresende 2012. – Ich sage: So spät erst? - Was sie darauf gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Ich weiter: Dann können wir uns versicherungstechnisch ein schönes Leben machen von den Altersrückstellungen der Seuchenopfer. – Sie meint: Dann können wir uns überhaupt ein schönes Leben machen. – Das weiß ich nicht. Wir wissen ja nicht mal, ob wir zu den Überlebenden zählen werden. Mein Punkt ist jetzt nur mal die Private Krankenversicherung, bei der ganz dringend was passieren muss. Und dass FDP-Mitglieder bei der DKV (meine Versicherung) günstigere Konditionen bekommen, reicht dafür einfach nicht aus. – Das sieht die Gesprächspartnerin genauso und meint: Schreib da doch mal was drüber. Das habe ich jetzt getan. Bloggen unterwegs.