Dienstag, 16. November 2010
Kaltblütig
Anneli müsste sich mal Zeit nehmen für mich, weil ich dringend ein Gespräch mit einer Vertrauten brauche. Doch Anneli führt ein Doppelleben, eigentlich ein Dreifachleben: Ein Leben am Bodensee als älteste Tochter bei ihrer Mutter. Ein Leben in Berlin als Großmutter, die sie seit einem halben Jahr ist. Und dann wäre da noch ihr eigenes Leben. Aber zu dem kommt sie nicht. Daher kommt sie auch nicht zu dem vertrauten Gespräch mit mir. Heute zumindest nicht. Deshalb nur kurzes Telefonat. Teil 1 über Zeitmangel und dass die Zeit sowieso schon so schnell vergeht, wenn man so alt ist wie wir. Außerdem hat sich die Erdachse verschoben (oder verschiebt sich gerade?) und das hat auch Einfluss auf die Zeit, sagt Anneli. – Ich entgegne, dass ich keine Ahnung von Physik habe, aber mir nicht vorstellen kann, dass die Verschiebung der Erdachse einen Einfluss auf unser Zeitempfinden hat. Sie beharrt darauf und verweist auf ihren spirituellen Mentor, einen Indianer, der das schon vor Jahren vorhergesagt hat, was jetzt gerade passiert. Ich kann dazu nur sagen: Du hast einen Knall, Anneli. Einen Esoterik-Knall. – Doch das ist kein Streitthema zwischen uns. Sie hat den Knall. Ich sage es. Sie hält mich für oberflächlich. Und wir verstehen uns trotzdem. Sie ist eine der klügsten und besonnensten Personen, die ich kenne, und die kaltblütigste Person überhaupt, die ich je erlebt habe beim Agieren in Ausnahmesituationen - wie zum Beispiel einem Zimmerbrand oder beim Abwenden von drohender Gewalt alleine durch die Demonstration von Angstfreiheit. Wenn ich einen Krieg zu führen hätte und drei Personen auswählen könnte als Mitstreiter, wäre Anneli immer dabei. als Beraterin und für riskante Sondereinsätze. Nur wäre sie dann, wenn mein Krieg ausbricht, wahrscheinlich gerade am Bodensee oder meine Anrufe würden sie nicht erreichen und meine Mails auch nicht, weil sie wie jetzt gerade wieder so in Anspruch genommen ist, dass sie seit Tagen ihr Laptop nicht geöffnet hat, obwohl es ein iBook ist und es alleine schon Spaß macht, es anzufassen, wie sie sagt. Was bedeutet, dass sie auch seit längerem meinen Blog nicht mehr gelesen hat. Und das ist nicht gut. Du bist einer der guten Geister meines Blogs, sage ich. Du gehörst zu der Gruppe von Leuten, an die ich denke, wenn ich schreibe. Das darf nicht sein, dass sich das als Illusion erweist, dass du den Blog liest. - Nur, um das festzustellen, damit sie nicht eifersüchtig wird: Wichtigster guter Geist des Blogs bleibt natürlich die Tess, die nach wie vor gegenwärtig und weiterhin nicht anwesend ist. Wie Geister so sind. Übrigens: Ab nächster Woche gibt es eine ganze Serie von Tess-Jahrestagen. Weiß noch nicht, wie ich sie begehen werde. Alleine feiern ist blöd. Kann sein, ich verlinke hier einfach nur zwei Songs auf YouTube und das war es. Mal abwarten, was sie macht. Wahrscheinlich nichts. – Im zweiten Teil des Telefonats mit Anneli ging es auch um Peter. Ihr gefallen seine Fotos in Das Alte Biest. Und ich mache mir Sorgen, dass er wieder säuft, weil er nicht anruft und mir stattdessen selbstverliebte Mails schreibt mit Betrachtungen zu den vielen Frauen, die sich seit Jahrzehnten nicht abgewandt haben von ihm. Am Nachmittag ruft Peter dann an. Was macht das Trinken? frage ich sofort. – Ich trinke nicht, antwortet er. – Seit? – Am Sonntagabend habe ich ein Glas Wein getrunken im Restaurant, seither nichts mehr. – Großartig, sage ich. – Er kann es allerdings noch nicht richtig genießen, weil seine Hände so zittern. – Das wird bestimmt jetzt jeden Tag besser. – Hoffentlich. – Und wie geht es deiner zusammengebrochenen Persönlichkeit? – Schweigen im Telefonhörer. – Peter?! – Mein Sohn ist ausgezogen. – Wann? – Vor einer Woche. – Zu einer gemeinsamen Freundin der beiden ist er gezogen. Er konnte das Elend seines Vaters nicht mehr mit ansehen. Aber es hat keinen Krach gegeben. Die Trennung war einvernehmlich. Nur, dass der Sohn dem Peter jetzt fehlt. Vereinsamen wird er trotzdem nicht, denn er hat neben den zahlreichen langjährigen Freundinnen, mit denen er über Skype kommuniziert, auch noch die aktuelle Freundin mit der Tochter, die in eine therapeutische WG soll, auch erst wollte nach Peters Überzeugungsarbeit, jetzt aber nicht mehr will und ihr Vater will es auch nicht, weil er dann auch alleine ist, ganz alleine, da er außer seiner Tochter niemanden hat. Die therapeutische WG, in die die Tochter gehen sollte, befindet sich in einem Ort im berühmten Kreis Lüchow-Dannenberg. - Da ist doch alles verstrahlt! hat der Vater gesagt. – Quatsch, meint Peter. Er hat Freunde, die dort seit Jahrzehnten auf einem Bauernhof leben und immer noch gesund sind. Aber nichts zu machen, der Vater hat das Sorgerecht für die Dreizehnjährige. Nun hat Peter über sein Sozialarbeiter-Netzwerk zwei therapeutische WGs in Berlin ausfindig gemacht, die die Tochter aufnehmen würden. Obwohl seit Monaten krankgeschrieben, macht Peter auf diese Art weiter, was er immer gemacht hat: seinen Helferjob. Nur, dass er jetzt nicht mehr trinkt. – Bleib stark, Peter! sage ich zum Abschied. Und rufe in ein paar Tagen wieder an. Ich will wissen, dass es dir gut geht. Und wenn es dir nicht gut geht, ruf auch an. – Mein neuer Ton. So rede ich auch mit mir selbst (in meinem inneren Monolog, nicht laut). Mein Phlegma erweist sich jetzt nämlich immer mehr als ein Sichabfinden (Michabfinden?). Gelassenheit will ich es noch nicht nennen. Gelassenheit kann ich mir auch nicht vorstellen bei mir. Kaltblütigkeit wäre mir lieber.