Sonntag, 28. November 2010

Metapher

Viel Feuilleton um ein linksradikales Manifest aus Frankreich. L´insurrection qui vient. Der kommende Aufstand. – Hätte es nicht das viele Feuilleton gegeben, ich wäre nie auf die Idee gekommen, das Manifest zu lesen. Ich bin 58 Jahre alt. Aufstände, die kommen werden, interessieren mich nicht. Jetzt oder nie! – Deshalb wären auch die Artikel über das Manifest von Nils Minkmar in der FAZ und Alex Rühle an mir vorbei gegangen, hätte es nicht dann noch den Artikel in der taz von Johannes Thumfart gegeben, der aus dem Feuilleton richtig viel Feuilleton gemacht hat (*). - Alex Rühle schreibt in der Süddeutschen Zeitung über Der kommende Aufstand: Das Besondere an dem Buch ist dessen glänzender Stil. Der Text kommt ohne das sonstige phraseologische Sperrholz linker Pamphlete aus, die Autoren schreiben mit situationistischem Schwung und gleichzeitig düsterrevolutionärem Zorn eine "Ästhetik des Widerstands" für das neue Jahrtausend. Der erste Teil ist in sieben "Kreise" unterteilt, ein Verweis auf Dantes Inferno. In der Hölle unserer Tage ist der Mensch eine kleine, überflüssige Konsum-Monade, der als Lebenssinn nur das kalte Neonlicht der Warenwelt bleibt. Das System ist überall, fast wie Gas ist es noch in die letzten Ritzen des Privatlebens gedrungen. Aber gerade weil es unbesiegbar und übermächtig ist, muss man jetzt dagegen aufbegehren. - Wie gerne hätte ich jetzt die Mienen der Leser beobachtet, um zu sehen, ob es ein Stutzen, Stirnrunzeln oder ein schmerzhaftes Gesichtverziehen an einer bestimmten Stelle gegeben hat. - Rate, rate, welche könnte es sein? – Hier nun, was dem taz-Autor Johannes Thumfart an dem Text aufgefallen ist. Wobei zu bemerken ist, dass der Autor von vornherein nicht gut zu sprechen ist auf Alex Rühle, weil der nämlich ein Internetverweigerer ist und als solcher muss er bezeichnet werden und stigmatisiert werden, weil er einmal einen Selbsterfahrungsversuch gemacht hat, ohne Internet zu leben, und darüber geschrieben hat. Das nur als Einstiegshilfe in den Text von Johannes Thumfart: Weitgehend kritiklos bestaunt der Internetverweigerer den "düsterrevolutionären Zorn" des Buches, seine "Aura der Hellsichtigkeit" und seine "heroische Melancholie". Gerade die darin vertretene "Partizipationsverweigerung" sagt ihm zu. Sein Urteil lautet kurz, es handele sich um "ein Weißbuch des Überlebens in stürmischen Zeiten". Und auch zu weiteren Entgleisungen lässt er sich verleiten: "Das System", schreibt er, "ist überall, fast wie Gas ist es noch in die letzten Ritzen des Privatlebens gedrungen." – Die richtige Antwort auf meine Frage oben lautet also: Gas. – Das ist eine Entgleisung, zu der sich Alex Rühle hat verleiten lassen von seiner Lektüre des Manifests. – Aber warum ist das eine Entgleisung? – Johannes Thumfart: Das Merkwürdige an der Gasmetapher ist nun: Sie ist nicht als Zitat gekennzeichnet und stammt auch nicht aus dem Text, weder aus der französischen noch aus der deutschen Ausgabe. Es ist der Rezensent, der hier schreibt - ein deutscher Journalist, der damit den globalen, demokratischen, marktwirtschaftlichen Zusammenhang bezeichnet, gegen den das Buch wettert. Die Gasmetapher ginge sogar für den paranoischen Duktus des Textes selbst zu weit. – Schritt für Schritt. Worin besteht die Entgleisung? – Der Autor hat die Metapher selbst gebildet. Den Eindruck, er habe sie übernommen, hat er allerdings nicht erweckt; er hat sie nicht in Anführungsstriche gesetzt und so getan, als wäre es ein Zitat. Nächster Schritt: Er hat diese Metapher verwendet als deutscher Journalist. Journalist ist wohl nicht das Problem, auf deutsch scheint es anzukommen. Und er hat mit dem metaphorischen Gebrauch der Gasmetapher bezeichnet den globalen, demokratischen, marktwirtschaftlichen Zusammenhang, gegen den das Buch wettert. – Hat er das getan? – Der Satz vor der Gasmetapher lautet: In der Hölle unserer Tage ist der Mensch eine kleine, überflüssige Konsum-Monade, der als Lebenssinn nur das kalte Neonlicht der Warenwelt bleibt. Das Manifest referierend konturiert Alex Rühle eine Lebenswelt, die er als Hölle bezeichnet, in der Menschen reduziert werden auf den Status von Konsumenten, deren Dasein keinen anderen Sinn hat, als den Werbebotschaften (kaltes Neonlicht) des Warenangebots zu folgen. Das fasst er daraufhin zusammen mit dem Begriff System, das ich ganz platt mit dem 70er-Jahre-Begriff Konsumismus bezeichnen möchte, und von diesem System, dem Konsumismus sagt er, dass es wie Gas noch in die letzten Ritzen des Privatlebens eindringt. – Die Erde bleibt eine Kugel, die Demokratie wird zwar nicht bejaht an dieser Textstelle, aber auch nicht in Frage gestellt und das gleiche gilt für die Marktwirtschaft. Es geht Alex Rühle mit seiner Metapher um die Allgegenwart des Konsumierens und seine Auswirkungen auf das Privatleben der Menschen. Ist das eine Entgleisung? Das kann Johannes Thumfart nicht gemeint haben, und wenn, dann hat er etwas missverstanden – Ist es also der deutsche Journalist, der die Entgleisung verursacht hat. Als deutscher Journalist hat Alex Rühle die sogenannte Gasmetapher gebildet, hebt Johannes Thumfart hervor und verzichtet darauf, das zu erläutern, als wäre damit schon alles gesagt. Skandal: Deutscher Journalist bildet Gasmetapher! – Aber was ist der Skandal? – Ich kann es mir nur so erklären, dass Johannes Thumfart meint, dass ein deutscher Journalist keine Metaphern mit Gas bilden darf, weil mit Hilfe von Gas industriell organisierter Massenmord an Millionen jüdischer Menschen verübt worden ist. - Ist es das? – Und wenn das so ist, warum spricht er das nicht aus? – Um sich die Möglichkeit offen zu halten, dann sagen zu können, nein, so habe er es nicht gemeint, wenn man ihn darauf festlegt? Oder weil er es für eine solche Selbstverständlichkeit hält, dass er meint, es nicht aussprechen zu müssen? Weil das jedem klar sein, muss das das nicht geht nach Auschwitz. eine Metapher mit Gas zu bilden? – Ich denke nach: Über den Toren einiger Konzentrationslager, zum Beispiel dem von Auschwitz, stand Arbeit macht frei? Arbeit. Frei. Keine Metaphern mit Arbeit und frei? Die Opfer wurden mit der Eisenbahn in Güterwagen aus ganz Europa nach Polen transportiert. Eisenbahn. Güterwagen. Keine Metaphern mit Eisenbahn und Güterwagen? – Meint er das? Oder geht es ihm nur um das Wort Gas? Ist er da vielleicht lebensgeschichtlich vorbelastet? Gehörte jemand aus seiner engeren oder weiteren Verwandtschaft vielleicht zum SS-Personal, das in unmittelbarer Nähe der sogenannten Gaskammern tätig war, vielleicht sogar mit dem Einbringen des Insektenvernichtugsmittels Zyklon B betraut, welches das tödliche Gas (Blausäure) freisetzte? War deshalb in seiner Familie das Wort Gas mit einem Tabu belegt und ist es bis heute geblieben? Oder ist er nur jemand, der mit einer Empfindlichkeit hantiert, die er gar nicht hat, um jemanden anderen auszugrenzen? Ist er einfach nur ein streberischer Wichtigtuer, der sich mit künstlicher Aufgeregtheit zu profilieren versucht? Ein streberischer Wichtigtuer, der mit Absicht fehldeutet, missversteht und verzerrt? Aber wie kommt sein Text dann in die taz? – Am Ende des Artikels bekennt er sich zu den stets neu zu verwirklichenden Zielen von 1776 und 1789. Zu denen bekenne ich mich auch. Zu denen bekennt sich bestimmt auch Alex Rühle. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Bei Johannes Thumfart weiß ich nicht, was ich ihm glauben soll.
(*)
Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand (2007)
Nils Minkmar, Seid faul und militant!
Alex Rühle, Das kommunale Manifest
Johannes Thumfart, "Fast wie Gas"
Marc Felix Serrao, Das hat er vom Vater
Jürgen Kaube, Den Hass genießen
Andreas Fanizadeh. Der kommende Lautstand