Sonntag, 30. Mai 2010

Peter

Am Morgen ruft Peter an. Wir können uns nicht treffen, sagt er. Er hat die gebrannten CDs für mich im Zeitungsladen in der Nachbarschaft deponiert. Er muss jetzt nämlich gleich wieder zu seiner Freundin wegen des Dramas mit deren Tochter Nina. Die ist dreizehn, lebt bei ihrem Vater und ist sein Ein und Alles: Tochter, Partnerin und Ersatz für die Frau, die er seit der Trennung von ihrer Mutter nicht mehr hat. Emotionaler Missbrauch ist das, sagt die Mutter, sagt Peter und so sieht es auch Nina. Vor ein paar Tagen ist sie auf ihren Vater mit einem Küchenmesser losgegangen und hat ihn dabei so verletzt, dass der Rettungsdienst kommen musste. Tiefe Schnittwunden an den Händen, mit denen er Ninas Angriff abgewehrt hat. Sehnen durchtrennt. Blutbad. - Vater mit Blaulicht in die Notaufnahme. Nina zur Beobachtung in die Psychiatrie. Von dort ruft sie einen Klassenkameraden an und sagt zu ihm, dass sie gerade etwas total Cooles gemacht hat. Ihr inzwischen chirurgisch versorgter Vater will sie sofort wieder rausholen aus der Psychiatrie. Er behauptet, er hätte sich die Verletzungen selbst beigebracht. Was gar nicht mal so abwegig ist, weil er hat sie sich zugezogen, als er Nina das Messer abnehmen wollte. Nina besteht jedoch darauf, dass sie ihren Vater umbringen wollte, und möchte weiter psychiatrisch beobachtet werden.

Peter wird im Juni einundsechzig. Anfang letzten Jahres wurde bei ihm ein Zungenbodenkarzinom  diagnostiziert. Nachdem er Operation und Nachoperation hinter sich hatte, traf er Nora. Sie ist Polin, heißt eigentlich Honorata und ist über zwanzig Jahre jünger als Peter. Als die beiden was miteinander anfangen, gewöhnt sich Nora gerade das Rauchen ab. Peter hat es schon seit Monaten erfolglos versucht. Mit ihr zusammen schafft er es. - Aber: von Anfang an und immer wieder Nina. Die schulschwänzende Nina. Die lügende Nina. Die kiffende Nina. Die Lolita Nina. Der emotional verpeilte Vater. Der Briefwechsel mit dem Jugendamt wegen des emotional verpeilten Vaters. Die Sorgen wegen Nina, die sich die Mutter macht Tag und Nacht, vor allem in der Nacht. Und jetzt auch noch Nina in der Psychiatrie und kein Auge macht die Mutter mehr zu und Peter deshalb auch nicht.

Peter ist Sozialarbeiter. Wie übrigens auch der Vater von Nina, der, bevor er Sozialarbeiter wurde, Polizist war und dann Taxifahrer. Taxi fährt er weiter nebenher.