Montag, 30. August 2010

Scheu

Montag ist immer der Tag der Klagen und Verbitterung im Schreiben an die Tess gewesen - nachdem es am Wochenende wieder nicht geklappt hatte mit uns. Jetzt keine Erwartung, keine Enttäuschung mehr. - Die "Mimik" der Dachwohnung gegenüber unklar. Neuer Zeichensatz? Oder hat es nichts zu bedeuten, was ich sehe? Wenn ich es nicht konsequent verfolge und interpretiere, was drüben vorgeht, ist es besser gar nicht hin zu gucken. Sonst keine Chance, die Zeichen zu deuten. Also lieber gar nicht hin gucken. Schwer. Anscheinend sind Gäste in der Wohnung. Könnte sein, dass die Tess weg ist. Im Urlaub mit ihrem Vermieter. Scheußliche Vorstellung. Wird auch nicht erträglicher durch die Albernheiten des Kindes. Flatmate mit Steckkontakt, singt das Kind vor sich hin: Fl-a-tm-a-te mit Steckkont-a-kt. - Fl-a-tm-a-te mit Steckkont-a-kt!  - Fl-a-tm-a-te mit Steckkont-a-kt. Letzte Woche noch amüsant der Singsang, mittlerweile: Halt den Rand, Kind! - Kannte mal eine Frau, die so Spaß an dem Wort Steckkontakt  hatte (Begriff aus der Elektrotechnik). Das Kind merkt sich alles. – Erinnerung an einen Montag im Frühling. Um die Mittagszeit kurz raus, zur Apotheke, um die Apothekerin was zu fragen (die Sache mit dem Wurm). Als ich aus dem Haus komme, steht die Tess auf der anderen Straßenseite in der Einfahrt mit Klamotten in Plastikfolie, die sie gerade aus der Reinigung geholt hat. Sie im kurzen grauen Rock, schwarze Strümpfe, schwarze Jacke. Sie schaut zu mir her, lächelt, was bei der Tess ja schon mal was ist, und winkt mir dann auch noch zu, was sie noch nie gemacht hatte. Ich strahle und winke zurück. Wir verharren so einen Moment, dann dreht sie sich um, geht in die Einfahrt hinein - und ich ihr nicht hinterher, sondern außer mir vor Glück zur Apotheke, um mit der Apothekerin die Wurm-Sache zu besprechen und ihr zu diesem Zweck zu zeigen, was ich in dem Tütchen in meiner Hand habe, das ich vorbereitet hatte für das Gespräch mit ihr. – Letzte Woche immer wieder mich erinnert daran, wie die Tess da auf der anderen Straßenseite stand und mir zugewinkt hat und ich nicht rüber gegangen bin zu ihr. Wegen des Tütchens in der Hand ja wohl nicht; das hätte ich wegstecken können. Also weil ich dachte, dass sie gar nicht wollte, dass ich zu ihr hingehe, dass sie mir nur zuwinken wollte? So seltsam ist nicht mal die Tess. So seltsam bin nur ich. Weil ich eigentlich Angst habe vor Frauen? Weil ich und das Kind, wir uns fürchten vor fremden Frauen, nach denen wir verrückt sind? Weil wir uns fürchten vor Frauen, insbesondere vor jungen fremden Frauen, mit denen wir uns schon alles mögliche ausgemalt haben in unserer Sehnsucht nach ihnen? Oder weil wir uns überhaupt fürchten vor Frauen? Inzwischen? Im Grunde schon immer? – Mal nicht übertreiben. Unsere besten Freunde sind Frauen. Auch bei fremden Frauen, wenn wir erst mal im Gespräch sind mit ihnen – weil sprechen ist wichtig für uns, sehr wichtig –, da haben wir nicht mehr die geringste Scheu. Und wenn sie uns ihre Telefonnummer geben und uns dabei in die Augen schauen oder den Arm um uns legen und uns ins Ohr flüstern, lass uns doch mal wieder Steckkontakt haben – na ja, dann ist ja leicht, da kann ja jeder. Schwierig, unmöglich wird es allerdings, wenn wir das Gefühl haben, dass wir gar nicht gemeint sein können, und wir uns wie ein Hochstapler vorkommen wegen der Erwartungen, die wir geweckt haben und nicht erfüllen können. Da geraten wir so in Panik, dass wir gar nicht auf die Idee kommen heraus zu finden, ob wir vielleicht doch gemeint sind und uns das mit den unerfüllbaren Erwartungen etwa nur einbilden. Doch wäre ich nicht geflüchtet nach der Beerdigung in Kreuzberg, hätte ich die Geschichte mit der Tess vielleicht nie erlebt. Dann wäre die Tess immer nur die Frau mit der erhabenen Kopfhaltung beim Brustschwimmen geblieben. Damals habe ich die Tess nämlich schon gesehen, zwei, dreimal die Woche im Hallenbad. – Die Kopfhaltung der Tess beim Brustschwimmen. Der Anfang alles Tessigen.