Donnerstag, 5. August 2010
Ruven
Traurige Sommertage. Unbekannter Herr in der Umkleide des Hallenbades erklärt uns, dass das an der Hitze in Russland liegt. Deshalb kommen Luftströmungen aus dem kühlen Norden zu uns und die Heißluftströme aus Südeuropa und Afrika nicht zu uns her. Er hat lange in der Landwirtschaft gearbeitet; da lernt man die Wetterkarte zu lesen. Der verschmitzte Herr und ich, wir danken für die Unterrichtung und es friert uns alleine schon bei dem Gedanken, dass ab nächsten Montag das Hallenbad am Heidelberger Platz für vier Wochen geschlossen sein wird und wir dann ins Freibad müssen. Ruven war heute nicht da, weil seine Tochter das Auto hat. Ruven ist der lettische Herr. Wir sind mittlerweile beim Du. Wir haben uns allerdings noch nicht mit Vornamen angesprochen. Dass er Ruven heißt, weiß ich vom kleinen Herrn. Der war 14, als der Krieg vorbei war und hat eineinhalb Jahre Russisch gelernt in der Schule, bevor er von der sowjetischen in die englische Besatzungszone umgezogen ist. Mit Ruven spricht er Brocken-Russisch; spasibo heißt Danke. Ruven ist 1936 geboren. Er fragt mich, wann ich geboren bin. Ich sage, 1952. Da sagt er: also nach dem Krieg. Ich sage, glücklicherweise. Er sagt, 1954 hat er Abitur gemacht. Ruven würde ich am liebsten mitnehmen und immer beschützen, und dazu würde ich ihm als erstes seinen beängstigend dicken Bauch wegtrainieren. Ich lenke ab. Das ist heute schon der zweite Text, der nichts zu werden droht, weil ich ablenke. Den ersten Text habe ich beim Schwimmen entworfen und heute Nachmittag geschrieben. Es ging darin weiter um Verachtung. Der Text kommt morgen oder nie. Im Augenblick ist es so, dass ich am liebsten 1936 im Frühlicht eines Tages, der einer der heißesten des Jahres sein wird, in Moskau vor einem Erschießungskommando stehen würde, und bevor die Männer in den Uniformen abdrücken, die Augen schließen und lächelnd an eine Liebe denken, die sich nie erfüllt hat. Ende des ersten Teils. - Nach einer kurzen Pause geht es weiter oder nicht. - Zweiter Teil: Es geht nicht weiter. Weil jetzt muss ich erst mal ganz lange nachdenken. Ich habe nämlich in der Pause die Tess angerufen. Und dieses Mal hat tatsächlich jemand abgenommen und ich habe ein richtiges Gespräch geführt, nachdem der Mann von der Tess mir auf meine Bitte seine "Frau oder Freundin" gegeben hat, wie ich es formulierte. Was dabei heraus kam, morgen. Wenn ich meine Eindrücke sortiert haben werde. Stand von jetzt ist: Entweder ich bin verrückt oder in eine Inszenierungsfalle gelaufen, gegen die ein Erschießungskommando - nein, so geht das nicht, ich belasse es bei Inszenierungsfalle. Aber immerhin, es wurde geredet. Es kann bestimmt auch weiter geredet werden, wenn ich noch Fragen haben sollte. Das ist schon mal ein Riesenfortschritt und lässt den Sommer schon wieder viel freundlicher aussehen. Wenn ich auch nicht mit Tess geredet habe. Weil es keine Tess gibt, so zumindest der eben im Telefongespräch erweckte Eindruck. (6-08-10: "Inszenierungsfalle" ist ein Sprachunfall. Gemeint habe ich "inszenierte Falle". Aber ist eine Falle nicht immer inszeniert? - Wegen Authentizität lasse ich den Text so wie er ist.)