Wer den Blog regelmäßig liest, weiß, dass ich mich eher langweilen oder zum Deppen machen würde, indem ich über die Würde des Bundespräsidenten schwadroniere, als eine Geschichte zu erfinden.
15. 20 Uhr. Ecke Badensche / Martin-Luther-Straße. Ich bin auf dem Weg zur Hauptstraße. Ich kann nach rechts über die Badensche Straße gehen oder geradeaus über die Martin-Luther-Straße. Das ist egal. Ich werde da lang gehen, wo die Fußgängerampel zuerst Grün zeigt. Im Moment zeigen beide Ampeln Rot und die junge Frau, die am Zebrastreifen auf der anderen Seite der Badenschen Straße steht, sieht aus wie die Frau, die ich Contessa genannt habe und später Tess. Sie trägt einen knielangen Parka, in dem ich sie schon einmal gesehen habe (vor zwei Jahren im Penny Markt in der Grunewaldstraße, im Blog nicht dokumentiert, weil es ihn da noch nicht gab). Sie scheint Regen erwartet zu haben, als sie aus dem Haus gegangen ist, und deshalb hat sie ihre eleganten schwarzen Gummistiefel angezogen. Zwischen den Stiefeln und dem Saum ihres Parkas glaube ich die dunkelblauen Jeans zu erkennen, die die Jeans sein könnten, die sie bei unserer verhuschten Begegnung im letzten Frühling anhatte. Ich starre sie an, sie bemerkt meinen Blick nicht oder ignoriert ihn. Ich bin mir jetzt sicher: sie ist die Frau, die ich vor einem Jahr um diese Zeit zweimal gesehen habe (da und da), die ich für die Contessa hielt und die zu meiner Überraschung ihre langen Haare abgeschnitten hatte. Die Haare trägt sie jetzt halblang. Ihre Wangen sind stark gerötet wie vor einem Jahr. Sie ist es. Aber ist sie auch die Contessa?
Sie hat jetzt Grün und kommt auf meine Seite, stellt sich an die Fußgängerampel an der Martin-Luther-Straße. Sie nimmt mich die ganze Zeit nicht wahr, obwohl ich sie weiter unentwegt anstarre. Ich stelle mich neben sie. Mit einem Meter Abstand. Ich beuge mich zu ihr hinüber, als ich sie anspreche. Ich sage, Hallo. Jetzt wird sie auf mich aufmerksam und sieht mich überrascht an. Kennen wir uns, frage ich sie. Nein, antwortet sie. Ich sage, denken Sie nicht, dass ich verrückt bin oder dass das eine schräge Anmache ist. Sie bedeutet mir, dass sie das nicht denkt, obwohl Verrückte bekannt dafür sind, dass sie Gespräche mit der Grundsatzerklärung eröffnen, sie seien nicht verrückt. Ich präzisiere meine Frage: Sie kennen mich nicht? Vom Sehen, meine ich? – Nein, versichert sie glaubhaft. Grün. Wir überqueren zusammen die Straße. Ich sage: Wenn wir uns kennen würden, ich meine, vom Sehen kennen, dann würden wir uns vom Hallenbad in der Hauptstraße kennen. Sind Sie da gewesen regelmäßig zum Frühschwimmen? - Nein, sagt sie wieder glaubhaft und damit war es das für mich. Denn, wenn sie nicht im Hallenbad in der Hauptstraße war regelmäßig zum Frühschwimmen, dann ist sie nicht die Frau, die ich Contessa und später Tess genannt habe. Und wenn sie es ist und mich gerade auflaufen lässt, dann gibt es auch keinen Grund, das Gespräch fortzusetzen. Wir stehen vor dem Fahrradladen schräg gegenüber vom Schöneberger Rathaus. Sie ist kein bisschen zickig, nicht überwachsam und misstrauisch. Sie sagt, sie habe schon manchmal daran gedacht, schwimmen zu gehen, aber das Bad sei schon so lange geschlossen. - Seit Sommer 2009, sage ich. Da habe ich die Frau aus den Augen verloren. Und dann habe ich Sie einige Male gesehen bei Penny und bei Reichelt und habe geglaubt, Sie seien die Frau aus dem Hallenbad. Ich kam aber nie dazu, Sie anzusprechen, weil Sie jedes Mal so schnell wieder weg waren. Ich sage das nicht in dieser Ausführlichkeit, ich komme auch jetzt erst auf die Idee, dass ich ihr meine Karte hätte geben können und sie hätte hinweisen können auf das, was ich im Blog alles über die Frau aus dem Hallenbad geschrieben habe. Sie wiederholt, was sie schon zu Anfang des Gesprächs auf der anderen Straßenseite gesagt hat: Sie kenne mich nicht, aber mein Gesicht sei ihr nicht unbekannt. Ob ich in einem Laden in der Nähe arbeite? Komische Frage. Komische Antwort: Nein, aber ich wohne hier in der Nähe und weil ich zu Hause arbeite, gehe ich viel rum im Kiez. Wohnen Sie auch in der Nähe? – Ja, antwortet sie und dann fragt sie mich, ob ich Renate Wirt(h?) kenne. Nein, kenne ich nicht und warum sie das gefragt hat, kriege ich nicht mit, weil ich unaufmerksam bin. Sie erwähnt ein Seminar und ich könnte nachfragen und so mit ihr ins Gespräch kommen. Stattdessen spitze ich die Ohren, während sie redet, ob ein amerikanischer Akzent bei ihr herauszuhören ist. Kein Akzent. Wenn sie jemals einen amerikanischen Akzent hatte, dann hat sie ihn bei einem Aufenthalt in Süddeutschland verschliffen. Heißt: Wenn sie einen Akzent hat, dann ist es ein ganz leichter süddeutscher Akzent. Als ich das Gespräch beende, bin ich überzeugt, sie ist nicht die Frau, die ich erst Contessa und später Tess genannt habe. Ich verabschiede mich mit der scheinbar sinnlosen Bemerkung: Ich denke, dass Sie mich verstehen. Sie nickt und sagt, ja, sie versteht mich. – Mit verstehen meine ich: dass es keine Anmache war, dass ich sie nicht belästigen wollte. Es ist mir mein Leben lang wichtig gewesen, Frauen nicht zu belästigen. Inzwischen frage ich mich, ob das immer erwünscht war. Auf dem Rückweg fotografiere ich den Glascontainer, der im Posting von gestern vorgekommen ist.
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