Du bist feige, sagt Beate. Das nächste Mal machst du es alleine und wir gucken dir zu, sagt Petra. Ich bin der Einzige, der nicht mitmacht beim Farbspiel – außer Uliane, die ist Spielleiterin. Nachdem sie erklärt hat, wie es geht, zieht sie sich zurück in ein anderes Zimmer, denn sie wird später die Papierschnitzel-Kompositionen deuten – intuitiv deuten nach den Prinzipien ihrer Farblehre – und dazu darf sie nicht wissen, welches Bild von wem ist.
Da ich feige bin u n d mutig, macht es mir nichts aus zuzugeben, dass ich feige bin. Aber Feigheit ist nicht der Grund, weshalb ich nicht mitmache. Ich mache nicht mit, weil ich bald wieder gehen will. Und bald wieder gehen will ich, weil ich mir nicht viel verspreche von diesem Abend: Finissage der Schülerausstellung mit Farbspiel. Ulianes Schüler kenne ich schon; besser, ich lasse mich nicht auf sie ein, lerne sie nicht noch näher kennen, verwickle mich und muss dann darüber schreiben. Das Farbspiel: das hat mit Ulianes Farblehre zu tun, die kenne ich nur obenhin und ich sag mal so: Es wäre mir lieber, wenn sie keine Farblehre hätte. Aber dann gibt mir Uliane ein Skript, bevor sie ins andere Zimmer geht, und während die Schüler, Angehörigen und Freunde farbiges Papier collagieren, lese ich mich in den Farbtexten fest.
Schwarz spricht mich an, weil ich mich schwarz anziehe. Weiß lese ich so aufmerksam, weil ich mich einmal über das Weiß von jemand lustig gemacht habe. Diejenige Person habe ich dann nie kennengelernt (aus anderen Gründen), aber da ich sie nach allem trotzdem ein bisschen einschätzen kann, sagt mir der Weiß-Text sehr viel über sie. Am meisten beeindruckt mich, was Uliane über Orange und den Zorn geschrieben hat: Orange die Farbe / der untergehenden Sonne / die Überwindung von Zorn/ Orange Körper und Geist / Genuss / Trieb / Sex / Freude / Die Orange ist orange / Orange die Mischung aus / ROT des Blutes und / GELB der Idee der Sonne. – Warum stellt sie diese Texte nicht auf ihre Website, vergesse ich sie zu fragen, denn dann fotografiere ich sie an ihrem Rückzugsort, die Augurin, die Seherin, die sie heute Abend ist. Ich erzähle ihr, wie ich mich in ihrem Schwarz-Text wiederfinde. Aber Abgrenzung sei nur das eine bei mir, das andere sei der Wunsch zu verschmelzen. Und beides zusammen macht dann mein Lebenschaos, sage ich. – Ich liebe dein Lebenschaos, sagt Uliane und meint mein aufgeschriebenes Lebenschaos.
Mal gespannt was Uliane zum Drachen von Beate sagt und der filigranen Komposition der großen blonden Frau, die Ursula als Gast mitgebracht hat.
Ich werde noch abwarten, bis Uliane über die Collage von Leonie gesprochen hat und über die ihres Vaters, die gleich daneben liegt. Danach werde ich mich aus dem Zimmer schleichen und grußlos weggehen, um nicht zu stören. Das nehme ich mir vor, aber dann bleibe ich bis zum Schluss, und wenn Uliane statt der vierzehn, doppelt so viele Papierschnitzel-Bilder besprochen hätte, wäre ich auch geblieben. Obwohl sie sich wiederholt, was nicht zu vermeiden ist, verbraucht es sich nicht, wie sie mit ihren Farbassoziationen Persönlichkeiten beschreibt, dabei großzügig über Abgründe und Einöden hinweggehend und, so wie sie es auch sonst tut, in den Personen immer ihre Stärken und Entwicklungspotenziale sehend.
Ich beobachte Beate, Leonie und ihren Vater, während Uliane über ihre Bilder spricht, ohne zu wissen, dass sie von ihnen sind. Noch spannender wäre es, selbst ein Bild da liegen zu haben.
Am Schluss versucht Uliane zu raten, welches Bild von wem ist. Das hat anscheinend schon mal geklappt. Heute klappt es nicht. Gleich zweimal haut sie daneben bei Beate. Ihre Komposition ist die einzige Figurative: einen Drachen hat sie zusammengesetzt aus Papierschnitzeln. Uliane kommt nicht drauf, dass er von Beate ist. Von Dinosaurier hat Uliane gesprochen bei ihrer Analyse. Woran ist eigentlich zu erkennen, dass das ein Drache und kein Dino ist, Beate? – Sie deutet auf das Kinn der Figur und sagt: Am Schnurrbart. Dinosaurier haben keinen Schnurrbart. – Ach so.
Beim nächsten Farbspiel mache ich mit.