Dienstag, 17. Januar 2012

Schlampen

Einen Mann sehe ich, ob ich will oder nicht. Die Kontur seines Lebens wird sichtbar in Bruchstücken. Mehr will ich nicht wissen. Es geht mich nichts an. Nur, dass bei ihm ständig das Fernsehgerät eingeschaltet ist, damit werde ich nicht fertig. Von da aus mache ich mir Gedanken über ihn, ob ich will oder nicht: Dass das Prollige des Dauer-TV gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung passt. Warum er seit einigen Wochen fast immer zu Hause ist? Ob er als Kind nicht fernsehen durfte? Von was für Strapazen er sich gerade erholt? Um die Feiertage herum war er einmal fast drei Wochen weg. Seither denke ich, dass er Steward sein könnte auf einem Kreuzfahrtschiff oder Flugbegleiter. Pilot, habe ich auch schon gedacht. Denke ich jetzt aber nicht mehr, dass er Pilot ist. Ich beobachte auch nicht, ob er tatsächlich fernsieht oder nur das Gerät eingeschaltet hat, um sich nicht alleine zu fühlen oder weil er die Stille nicht erträgt. Je weiter man von den Fernsehgewohnheiten weg ist, desto absonderlicher erscheinen sie. Ein kleiner fetter Mann und eine Frau, die aussieht, als würde sie ihren Freiern K.O.-Tropfen in die Getränke träufeln, reißen im australischen Dschungel gallige Witze über einen Haufen Halbprominenter und die Witze werden geschrieben von Autoren in Deutschland, die vollgestopft sind mit lebensgefährlichen Vitaminpillen, um einer   Grippe vorzubeugen, die sie gerade jetzt überhaupt nicht brauchen können, solange die Sendung läuft. Woher ich das alles weiß, wenn ich so weit weg bin vom Fernsehen? Von den Schlagzeilen auf Bild.de, wo nur die Havarie des Kreuzfahrtschiffes vor Italien in den letzten Tagen so wichtig war wie die Ereignisse in Australien. Aktuell:  Dschungelmoderator lästert im TV/ Dirk Bach: "Es sind beides Schlampen. Ailton und Micaela"

Unverständlicher als die Popularität der RTL-Show ist mir nur der gespenstische Erfolg, den Harald Schmidt vor einigen Jahren hatte, als er bis in höchste Feuilleton- und Schriftstellerkreise für intellektuell wichtig gehalten wurde. Im Grunde habe ich damals gebrochen mit dem etablierten deutschen Geistesleben. Wenn ich zum Beispiel einen Rainald Goetz sehe oder einen Frank Schirrmacher, muss ich sofort daran denken, dass die Harald Schmidt gut gefunden haben und das auch noch haben heraushängen lassen als Attitüde, und dann ist es mir unmöglich, die noch so ernst zu nehmen, wie es gut wäre. Denn wen sonst soll ich ernst nehmen?