Freitag, 3. September 2010
Wahrheit
Vormittag. Laden von Sülo und Sinan. Der sehr umgängliche ältere Mann mit dem Wiener Akzent, den ich so gerne höre. Da ich meinen Lotto-Schein nicht gleich finde - weitere peinliche Enthüllung: ich spiele Lotto und nicht mal völlig glücklos -, da ich noch meinen Schein suche, lasse ich dem umgänglichen Wiener den Vortritt. Damit bringe ich ihn ungewollt in Verlegenheit. Denn nun kramt er in seinen Taschen, um dann festzustellen, er finde sein Geld nicht, er fürchte, dass er gar keines habe. - Das klingt ja dramatisch, sage ich, da ich noch nicht begriffen habe, dass er tatsächlich keins hat. – Er sagt: Das ganze Leben ist ein Drama. – Ich will etwas antworten im Sinne von: Wenn es doch so wäre, und will damit sagen, dass dass Leben eher langweilig ist, gerade das Leben im Elend. Ich lasse es dann aber lieber bleiben und breche den Satz nach zwei Worten ab, was niemandem auffällt, da jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Sinan mit seiner Kasse und dann damit, schon mal die Zigaretten für mich bereit zu legen. Ein Mann in mittleren Jahren in einem komisch-blauen Anzug betritt den Laden. Der umgängliche Wiener bedeutet ihm, dass er ihm den Vortritt lässt und murmelt etwas von Ratenkauf, den er mal wieder tätigen müsse und deshalb müsse er erst noch verhandeln. Jetzt will ich dran kommen. Ich bin so weit, sage ich. Doch just da stelle ich fest, dass sich mein Bibliotheksausweis in meinem Lotto-Schein verkeilt hat und füge kleinlaut hinzu: Aber nicht wirklich. - Damit habe ich einen Lacherfolg, über den ich mich nicht freuen kann, weil ich wollte eigentlich nie wieder "nicht wirklich" sagen. Es gelingt mir, meinen Lotto-Schein von meinem Bibliotheksausweis zu trennen. Sinan und ich machen das Lotto-Geschäft. Heute ohne Gewinnmitnahme. Daher zahle ich den vollen Preis, 15 Euro 90, Zigaretten inbegriffen. Derweil liest der umgängliche Mann die Überschriften der auf der Theke ausliegenden Tageszeitungen und will nun darüber reden: Weil er die Wahrheit sagt, muss er gehen, zitiert er eine Überschrift und kommentiert, dass das sei, wie es in der DDR gewesen ist. Der Mann in dem komisch-blauen Anzug stimmt ihm zu, indem er etwas sagt, was ich nicht richtig verstehe und auch gar nicht verstehen will. Ich grüße hastig und verlasse den Laden. - Warum so eilig? - Weil ich mich das nächste Mal wieder freuen will, wenn ich den umgänglichen Mann mit dem mir so angenehmen Wiener Akzent treffe, und nicht daran denken möchte, wie er im Gespräch mit dem Mann im komisch-blauen Anzug irgendeine Wahrheit ausgesprochen hat, die ich ihm nicht verzeihen kann. Weil es geht doch schon mal damit los, dass es so etwas wie Wahrheit gar nicht gibt.