Montag, 20. September 2010
Ausschreitungen
Auf meinem internen Globus ist Neukölln so weit weg wie Afghanistan oder der Irak. Ich meine das in einem ironisch geographischen Sinn. Doch es kommt schon noch hinzu die Vorstellung, dass in den Straßen Neuköllns die Zustände so sind, dass ich froh bin, da nicht leben zu müssen. Als ich dann einmal durch den Volkspark Hasenheide gefahren bin mit meinem Fahrrad an einem Sommersonntag vor zwei Jahren, war ich so überrascht von der Abwesenheit jeglichen sichtbaren Gefahrenpotentials, dass ich am Ausgang kehrt gemacht habe und noch mal eine Runde durch den Park gefahren bin, um sicher zu gehen, dass ich nichts übersehen habe. Es kann allerdings sein, dass an jenem Sonntag die von mir vermissten schwerbewaffneten Kleindealer, gewaltbereiten Jugendlichen und maulkorblosen Kampfhunde gerade den Umzug des Karnevals der Kulturen angeschaut haben, der nicht weit entfernt vorbeigezogen ist. Außerdem ist bei der folgenden Szene noch zu berücksichtigen, dass ich Lokalnachrichten nur am Rande mitkriege, da ich mit der Beobachtung des Weltgeschehens so viel zu tun habe, dass ich den Nachrichtenkonsum zu meiner Haupttätigkeit machen müsste, wollte ich auch noch Lokalnachrichten verfolgen. So erreichen mich Lokalnachrichten nur, wenn ich im Laden von Sülo und Sinan darauf warte, dass mir meine tägliche Packung Zigaretten ausgehändigt wird, und während dessen die Titelseite des Berliner Kuriers lese, oder wenn in Hörweite von mir Lokalnachrichten mündlich verbreitet werden. Wie geschehen heute Früh vor der Kasse des Hallenbades am Sachsendamm, das heute zum ersten Mal nach der Sommerpause wieder für Frühschwimmer geöffnet war. Deshalb große Wiedersehensfreude beim Mann an der Kasse und mir. Ob er einen schönen Sommer hatte, frage ich ihn. – Naja, das Wetter, das hätte ich ja auch miterlebt, meint er. – Und menschlich? hake ich nach und meine damit persönlich. – Der Mann an der Kasse setzt dazu an, zu sagen, dass es menschlich auch nicht so toll war, und meint das auch persönlich. Worauf der hinter mir stehende Mann sich in unser Gespräch einmischt, indem er menschlich als gesellschaftlich versteht. Menschlich, sagt der hinter mir stehende Mann, seien ja wohl vor allem die Ausschreitungen zu erwähnen, die es in den Freibädern gegeben hat. – Ich: Ausschreitungen? – Er entschuldigt sich bei dem Mann hinter der Kasse, dass er ihn unterbrochen hat, aber wenn er das dem Herrn hier, damit meint er mich, mal kurz erzählen dürfe. – Der Mann hinter mir ist einen Kopf größer als ich. Um die 40. Er hat lange am Hinterkopf zusammengebundene Haare wie ich, ist nachlässig gepflegt gekleidet und kommt mir vor wie aufgezogen – als hätte er nur darauf gewartet, seine Nachricht zu verbreiten und seinen Kommentar abzugeben. Die Nachricht: Im Prinzenbad und im Columbiabad ist es an den Hochsommertagen zu so heftigen Ausschreitungen gekommen, dass die Bäder danach (d.h. an dem jeweiligen Tag) geschlossen werden mussten. Dass da wie dort türkische Sicherheitskräfte im Einsatz sind, habe nichts genutzt, weil die Jugendlichen mittlerweile sogar auf ihre eigenen Leute losgingen. - Das waren also türkische und arabische Jugendliche? frage ich. – Er nickt und jetzt kommt sein Kommentar. Mit mahnend erhobener Stimme sagt er: Das ist unsere Zukunft! – Darauf fragt er den Mann an der Kasse, wo die Fortbildung stattfindet. Woraus ich schließe, dass er Lehrer ist, Sportlehrer. Denn was für eine Fortbildung sollte sonst am frühen Morgen in dem Schul- und Vereinsbad am Sachsendamm stattfinden als eine Fortbildung für Sportlehrer. – Mit den anderen Schlüssen, die ich jetzt zu ziehen habe, ist es nicht so einfach. Eigentlich habe ich zwei andere Themen vorliegen, über die ich beim Schwimmen nachdenken will. Jetzt muss ich mich mit den Ausschreitungen und der Besorgnis des etwa 40jährigen Lehrers befassen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, das sei ein irgendwie geordnetes Nachdenken gewesen. Es war mehr ein Brüten über drei Umständen. Erstens: Es ist nicht richtig, in einen Dandyismus von political correctness zu verfallen und Menschen zu verunglimpfen, die sich Sorgen machen; auch dann nicht, wenn sie sich alarmistisch äußern. Zweitens: Wenn männliche Jugendliche mutmaßlich orientalischer Herkunft an einem Hochsommertag in einem Freibad randalieren, geht es bestimmt nicht um Feinheiten der Koranauslegung, sondern wahrscheinlich um Mädchen oder die Abwesenheit von Mädchen. Drittens: Gewaltaktionen von Jugendlichen fallen ins Aufgabengebiet der Polizei und der Justiz, und wenn Polizei und Justiz ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, sollte man sie quantitativ (personell) und qualitativ (Fortbildung) stärken, aber nicht deswegen gleich die Gesellschaftsordnung in Frage stellen. – Später google ich „Prinzenbad Ausschreitungen“ und finde einen SPON-Artikel mit dem Titel: Revierkämpfe auf der Liegewiese. Beim Lesen fällt mir auf, dass die Autoren vermeiden, Aussagen über die Herkunft der an den Ausschreitungen beteiligten Jugendlichen zu machen. Erst die Stellungnahme eines ausführlich zitierten Kriminologen legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Randalierern mehrheitlich nicht um Jugendliche gehandelt hat, die vor zwei Jahren noch zum Konfirmantenunterricht gegangen sind. Das haben die Autoren selbstverständlich so beabsichtigt, keine Aussagen über die Herkunft der randalierenden Jugendlichen zu machen und erst mit Hilfe des Zitats einen Hinweis darauf zu geben, um den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen zu lassen. Ich komme zu dem Schluss, dass diese Schreibtaktik ebenso verhaltensauffällig ist wie der Auftritt des 40jährigen Lehrers von heute Früh und fluche leise vor mich hin, weil ich mich jetzt auch noch damit beschäftigen muss.