Donnerstag, 23. September 2010

Grausam

Fernsehen. Was geht und was nicht geht. Zum Beispiel, dass Kinder absichtlich und böswillig verlassen werden von ihren Eltern, das geht nicht, sagt die Produzentin. Und ich ahne schon warum. Weil das zu schwerwiegend ist für die Zuschauerinnen? – Deswegen und weil Sie das beim Jugendschutz nicht durchkriegen. Das darf nicht gezeigt werden in der Prime Time, dass Kinder verlassen werden. - Aber das Verlassensein des Kindes ist doch nur die Fallhöhe in meiner Idee. Der Abgrund, der sich auftut als Bedrohung. Tatsächlich ist das Kind doch immer in Begleitung eines Erwachsenen. Erst in Begleitung der Mutter, dann in Begleitung des Mannes, den die Mutter bittet, auf das Kind aufzupassen auf dem Flug nach Kanada, bis es abgeholt wird in Toronto. – Wird es dann da abgeholt? - Nein, aber die Mutter hat dem Kind eine Adresse mitgegeben für den Fall, dass im Flughafen in Toronto was schiefgeht. Und der Mann bringt das Kind dann zu der Adresse. – Zu den Großeltern? – Zu den Eltern des Kindsvaters, dem die Mutter das Kind überlassen will. Nur, der ist jetzt tot oder sonst wie verschwunden. Und seine Eltern, also die Großeltern, die wollen das Kind nicht. – War das abgesprochen mit dem Vater, dass das Kind kommt? – Nein, die Mutter will das Kind loswerden und schickt es deshalb nach Toronto. Soll sich der Vater um das Kind kümmern! – Und der will das Kind nicht haben? – Der ist wie gesagt tot oder sonst wie verschwunden. – Und die Großeltern? – Sind zu alt oder zu arm oder hartherzig oder wollen mit ihrem Sohn und seinem Leben nichts zu tun haben. – Das geht nicht. Das geht auf keinen Fall. – Weil es zu grausam ist? Seelisch? – Verlassenes Kind geht nicht. Das wird nicht akzeptiert vom Jugendschutz. – Aber das Kind ist ja nicht verlassen. Weil jetzt der Mann Verantwortung für das Kind übernimmt. Das will der zwar nicht, aber das ist dann die sehr komische und berührende Geschichte, wie das Kind dem Mann keine andere Wahl lässt, als dass er sich um es kümmert. Nichts wirklich Neues. Aber immer wieder schön. Charles Chaplin, The Kid. Luc Besson, The Professional. Mit der ganz jungen Natalie Portman und Jean Reno. Und nicht zu vergessen, Wim Wenders, Alice in den Städten. – Wenders ist langweilig. - Die frühen Filme von Wenders sind nicht langweilig. - Egal. Alles Kino. Im Kino können Sie machen, was Sie wollen. Da gibt es die Altersfreigaben von der FSK. Beim Fernsehen ... . -  Gibt es die Zuschauerinnen. - … sitzen die Kinder davor um 20 Uhr 15 und da wacht der Jugendschutz. Sie glauben gar nicht, weswegen ich schon Probleme mit denen hatte, als ich noch bei XXXX war. – Kinder. Märchen. Schneewittchen. Die Mutter schickt den Jäger mit Schneewittchen in den Wald. Er soll sie töten. Macht er nicht. Lässt sie laufen. Schießt ein Reh. Schneidet ihm das Herz raus, bringt es der Mutter und gibt vor, dass das das Herz von Schneewittchen ist. – Ich kenne Schneewittchen. – Darf im Fernsehen auch nicht gezeigt werden, oder? – So, in dieser Deutlichkeit nicht. – Dann brauchen Sie es gar nicht zu erzählen. Dann dürfte man Schneewittchen also im Fernsehen nicht zeigen. – Es gibt eine amerikanische Kinoverfilmung von Schneewittchen mit Sigourney Weaver als böser Mutter, die ist von der FSK freigegeben erst ab 16. – Wegen sexuell expliziter Szenen mit den Zwergen? – Nein, wegen der Grausamkeit ... .  – So hat die Produzentin auf alles eine problembewusste Antwort. Und manchmal habe ich das Gefühl, dass es ihr Liebstes ist, wenn sie sagen kann, dass irgendwas nicht geht. Ich habe noch nie zuvor eine Gesprächspartnerin erlebt in der TV-Branche, die die Spielräume so eng macht wie sie. Schon schade, dass das mit dem Kind und dem Mann nicht geht im Fernsehen. Denn die eigentliche Geschichte ist die von dem Mann. Narr der Veränderung. Will ein neues Leben anfangen, nach Gold graben in Kanada, so ein Willenskitsch, und dann kriegt er auf dem Flug dahin das Kind angedreht von der Rabenmutter, und jetzt hat er es, sein neues Leben, wie er es sich niemals vorgestellt hat, wie es ihm aber besser nicht hätte passieren können. Vielleicht findet sich dafür mal ein anderer Gesprächspartner. Habe der Produzentin auch nur vom Mann und dem Kind erzählt für den Fall, dass wir mit dem Cindy-Plot nicht ins Geschäft kommen. Von dem meint sie nach ersten Eindrücken, dass der den Zuschauerinnen gefallen könnte, und sie ist gespannt auf mehr. - Die Idee zu der Mann-Kind-Geschichte ist übrigens angeregt von einer Kurzgeschichte aus The New Yorker: The Kid. Bitte lesen!