Sonntag, 12. September 2010

Tot

Claude Chabrol ist tot.  Und ich improvisiere, weil der Text für heute nicht fertig geworden ist: girl with far away eyes und die manikürten Hände liegen auf einer Maschinenpistole, die die junge Soldatin gerade gereinigt hat oder gleich reinigen wird. Wenn es nicht gestellt ist das Foto (Originalabzug bei Michael gesehen). Und warum soll ich dann darüber schreiben? Eben darüber, dass es gestellt ist? Vielleicht in den nächsten Tagen. – Jetzt: Schon wieder! Dieses Mal Ralph.  Du bist aber dünn geworden! Was machst Du denn? Ich werde immer dicker. Und Du wirst immer dünner.  - Ich antworte: Das liegt daran, dass ich sterbenskrank bin. – Er sieht mich entsetzt an. Ich will ihm das nicht antun und gebe eine Erklärung ab, mit der ich die Harmlosigkeit meiner Dünnheit plausibel mache, will am Ende jedoch nicht ausschließen, dass ich mich auch irren könnte: Ich freue mich, dass ich so dünn bin, tatsächlich aber bin ich todkrank. Tücken einer positiven Lebenseinstellung! - Wir verabschieden uns lachend. Im Weitergehen male ich mir aus, wie ich todkrank bin und es einfach nicht mitkriege wegen meiner positiven Lebenseinstellung. Wie ich dann eines Morgens aufwache und mich etwas schwach fühle und deshalb entscheide, heute lieber nicht schwimmen zu gehen, sondern mich noch mal umzudrehen und noch eine Stunde weiter zu schlafen. Im Halbschlaf habe ich dann eine Nahtoderfahrung, bei der ich denke, das ist aber mal ein abgefahrener Traum. Den muss ich unbedingt nach dem Aufwachen aufschreiben. Doch ich wache nicht mehr auf, denn jetzt bin ich tot. - Inzwischen bin ich bei Reichelt und der junge Mann im weißen Kittel mit dem Logo auf der Brusttasche will nicht, dass ich meinen Einkaufskorb auf  die Waren stelle. Mein inneres Kind, das ein von mir antiautoritär erzogenes Kind ist, kann es nicht fassen, was es gerade gehört hat. Ich sehe die Möglichkeit, den jungen Mann so weit zu bringen, dass er sich vollends zum Deppen macht und mich aus dem Supermarkt wirft. Andererseits will ich jetzt schnell einkaufen. Mein Auftritt ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Wir verbleiben so, dass ich nicht mehr mit ihm reden will und er soll nie wieder mit mir reden. Das genügt mir aber nicht. Als ich die Geschäftsführerin erblicke. gehe ich zu ihr hin und sage, dass ich mich nicht über den jungen Mann beim Obst und Gemüse beschweren will, aber darauf hinweisen möchte, dass er bei einem Sondereinsatzkommando der Polizei oder bei einem besonders fiesen Ordnungsdienst  besser aufgehoben wäre als in dem freundlichen Reichelt-Supermarkt. – In diesem Moment kommt der junge Mann  “wie gerufen” dazu.  Ich erkläre ihm, was mein Problem mit ihm ist. Ich sage: Ich bin ja schon etwas älter als Sie. – Er unterbricht mich: Das spielt für mich überhaupt keine Rolle, wie alt Sie sind. – Ich gehe darüber hinweg und sage: Ich habe noch die Autobahnfahrten durch die DDR erlebt.  Und die jungen Männer an den Grenzübergängen, die hatten genau den gleichen Ton wie Sie. – Er: Ich habe “bitte” gesagt, als ich Sie aufgefordert habe, den Korb von den Waren zu nehmen. – Ich: Der Korb war leer und ganz leicht. Die Waren waren in Zellophan verpackte harte Nüsse. Und die Volkspolizisten haben, wenn sie einen guten Tag hatten, auch bitte gesagt.  - Die Geschäftsführerin hindert den jungen Mitarbeiter daran, mir zu widersprechen. Das ist mir lieber so. Aber es ist unbefriedigend. Später beruhige ich mich mit dem Gedanken daran, dass ich ihn irgendwann auf den Vorfall ansprechen werde und dass das vielleicht der Beginn einer lebenslangen Supermarkt-Freundschaft ist. – Glaube ich das wirklich? – Nein. Der Ton war zu übel. - Sonntag. Ich fahre mit dem Fahrrad durch die Goltzstraße und schaue rüber zum Café M, ob die Frau mit dem lustigen Pferdeschwanz da ist, die sonntags da arbeitet und mit der ich mich von Mal zu Mal besser verstanden habe, seit ich sie wegen ihrer äffchenartigen Gefallsucht einmal beleidigt und mich danach dafür entschuldigt habe. Sie ist nicht da und ich kann gerade noch rechtzeitig ausweichen vor der hochgeklappten Hecktür des Mercedes Vans, der mit der Kühlerhaube in Richtung Bürgersteig parkt. So parkt, dass die hochgeklappte  Hecktür genau die richtige Stellung und auch Höhe hat, um mir den Kopf abzutrennen oder mich wenigstens so am Hals zu treffen, dass es auch gereicht hätte. Erinnerung an die kuriosen tödlichen Unglücksfälle am Beginn jeder Episode von Six Feet Under. Beschluss: Bevor ich beim Fahrradfahren nach 9  Uhr oder 3 Uhr gucke, vorher immer erst noch mal nach 12 Uhr schauen, ob der Weg frei ist.  Gefallen an der militärischen Ausdrucksweise; links, rechts, geradeaus hätte es auch getan. Women of the Israel Defense Forces heißt die Serie des iranisch-amerikanischen Fotografen Ashkan Sahihi, zu der das Foto vom Mädchen mit den far away eyes gehört. Wenn er das Foto gestellt hat, was war seine Intention? – Sentimentalisierung des Militärischen? Propagandistisches Gemenschele? – Der Dialog mit Michael gegen Ende des gemeinsam verbrachten Abends fällt mir ein. Seine beste Freundin, die er schon seit der Kindheit kennt: Sharon, die ich auch so schätze, wegen ihrer Klugheit und ihrer großen Klappe. Michaels einziges Problem mit Sharon: ihre politischen Ansichten. – Und wie sind die? – Anti-israelisch und philo-palästinensisch. –  Ach ja, sage ich überrascht und füge hinzu: Philo-palästinensisch ist allerdings etwas übertrieben. – Jüdischer Selbsthass ist das, sagt er. - Viele kluge Juden sind anti-zionistisch, sage ich. - Er sagt was gegen Anti-Zionismus, woran ich mich nicht mehr erinnere. - Straße des 17. Juni. Hauptbahnhof. Invalidenstraße. Rosenthalerstraße. Zum Flohmarkt am Mauerpark. Ich lasse mal weg, was ich da wollte und warum ich meinen Plan dann aufgegeben habe. Nur: Lange nicht mehr so eine Menge interessanter Gesichter gesehen. Ganz andere Art von Menschen als in Schöneberg. Später Erinnerung an Berichterstattung über Rainald Goetz, der einen Bildband mit Fotos vorgestellt hat vergangene Woche im Suhrkamp Haus in der Pappelallee. Auf einem Stuhl soll er dabei gestanden haben, immer wieder runter gesprungen vom Stuhl und dann wieder raufgestiegen soll er sein und so den Kasper gemacht haben. Das wurde in der Berichterstattung so nicht ausgesprochen, war aber herauszulesen in der taz genau so wie in der Welt. In der Manier von Harald Schmidts Einleitungsconferencen am Beginn seiner Sendung habe er das Publikum unterhalten. Das sagt doch schon alles. Wenn der mutmaßlich wichtigste deutsche Autor wie ein anstrengendes Kind sein Vorbild kopiert, dann weiß ich nicht, was schlimmer ist - dass er das tut, oder dass er sich einen Harald Schmidt als Vorbild gewählt hat.  -  Wie komme ich darauf? Während er auf dem Stuhl stand oder gerade am Runtersteigen oder Hochsteigen war, soll er gesagt haben, dass es sich in Mitte viel besser aushalten lässt als im West-Teil der Stadt. Dass die Menschen im Westen alle so eine Geducktheit haben. Während am Rosenthaler Platz zum Beispiel, da sei es schön, da könne er gut  denken oder was er sonst alles gerne macht. Das fällt mir ein auf dem Rückweg. Am Hauptbahnhof singe ich noch laut (ein Lied von Sophie Hunger). Am Nollendorfplatz befällt mich die Sonntagsnachmittags-Melancholie, von der ich schon glaubte, dass ich sie heute nicht haben würde. Und als ich die Eisenacherstraße runter rolle, kann ich mir kaum mehr vorstellen, dass ich eine halbe Stunde vorher noch ausgelassen war. – Soll ich in einen anderen Stadtteil ziehen? In den Osten? Wo es keine Geducktheit gibt und wo es schön ist - und wo die Leute mich nicht anders kennen werden als dünn und mich nicht andauernd in Angst und Schrecken versetzen, indem sie mich besorgt auf meine Dünnheit ansprechen? Wo mich vielleicht überhaupt niemand mehr anspricht, weil mich niemand kennt? – Auch nicht gut.