Mittwoch, 8. September 2010
Kapitalismus
Falls ich gestern jemanden in Schrecken versetzt haben sollte: Krebs durch rotes Fleisch? – Nicht von einem Mal und auch nicht von zweimal, aber - trotzdem aufpassen! Nachzulesen hier und hier. Und sonst rauche ich, als hätte ich zwei Leben und gestern hat mich Roland im Vorübergehen gefragt, ob ich eigentlich inzwischen mal eine Darmspiegelung hätte machen lassen wegen meiner Dünnheit. Naturgemäß nicht nur um die Hüften, sondern auch im Gesicht. Deshalb auch die vermehrte Faltenbildung. - Soll ich mich jetzt vielleicht fett fressen, damit die Falten weggehen? raunze ich zurück. Da spritze ich lieber Botox. - Das habe ich aber nur gesagt wegen der Stärke des Satzes. In Wirklichkeit wüsste ich gar nicht, für wen ich das machen sollte. Denn ich sehe mich im Normalfall nur beim Rasieren und da nicht so genau hin. Ausnahmefall das mit den Fotos. Erste Ergebnisse des letzten “Shootings” bei Peter, mit der Spiegelreflexkamera und semiprofessioneller Ausleuchtung, vorhin in der Mail. Habe sie lieber nicht geöffnet, um den Bewußtseins-strom nicht in eine unerwünschte Richtung driften zu lassen, da ich eigentlich schreiben will über die Begegnung mit dem verschmitzten Herrn heute Morgen im Hallenbad, das nach vier Wochen Pause endlich wieder seinen Betrieb aufgenommen hat. Hurra! – Das mit dem verschmitzten Herrn ist eine Fortsetzung von Wirtschaftsteil von gestern: Der verschmitzte Herr hat nämlich, wie er mir heute morgen erzählte, mal eine Strickerei gehabt. 35 Beschäftigte. 2002 hat er pleite gemacht, weil die Pullover, die sie herstellten, nicht mehr zu verkaufen waren. – Wegen des globalen Wettbewerbs? frage ich. – Nein, die Damen, die seine Pullover kauften und sie in Cafés trugen, in denen sie den anderen Damen ihren Schmuck vorführten (er streicht verdeutlichend über seine Unterarme, wo die Damen die güldenen Armreife trugen), diese Damen gingen auf einmal nicht mehr in Cafés, sondern haben ihr Geld von nun an lieber für Reisen ausgegeben und tragen bei diesen Reisen irgendwelches billige Zeug, weil sie kein Geld mehr übrig haben für höherwertige Kleidung und weil sie mit ihrer Anwesenheit an Fernreisezielen schon genug höhere Lebensart beweisen. - Von solchen Geschichten kann ich gar nicht genug kriegen. Eine einzige Enttäuschung hingegen der Essay von Robert Misk ("… so why don´t you kill me? - Kapitalismus und Pop-Moral") ín der aktuellen Spex, den ich vorhin in meiner Mittagspause gelesen habe. Erst sammelt er reichlich Zitate und Belege, um das (schlecht) Anarchische des Kapitalismus zu beschreiben, das Planlose, Unbändige, raubtierartig Wilde der geballten Egoismen, das dann auch schon mal so an unseren Bedürfnissen vorbei schrammt, dass es weh tut. In einem Mittelteil beschwört er darauf eine Wechselwirkung von Kapitalismus und Pop-Kultur, die unter anderem darin besteht, dass Freaks auch Konsumenten sind und dass man mit der Energie, die Mick Jagger bei einem Konzertauftritt loslässt, leicht eine weltweite Marken-Kampagne für Kukident Haftcreme durchziehen könnte. Nur leider ist der Kapitalismus dann im September 2008 zusammengebrochen und konnte nur mit Staatsmitteln gerettet werden. Damit ist die dritte Entwicklungsphase des Kapitalismus zu Ende, eine neue, die vierte Phase wird folgen. Wie wird die, wie soll die aussehen? Wie hätten wir die gerne? fragt er, als könnten Pop-Feuilletonisten wie er und Leser wie ich uns das aussuchen; auch wenn die Wahl nicht ganz einfach ist. Denn: Im Grunde wirft die Frage nach dem Zusammenhang von Kapitalismus und popkulturellen Ethiken die Frage auf, wie wir leben wollen. Niemand, der seine sieben Sinne beisammen hat, will in einer Welt ohne Dynamik und Intensität leben, aber wie baut man sie so, dass niemand unter die Räder kommt? - Es schließen sich weitere Fragen dieses schweren Kalibers an und ich denke, jetzt bin ich aber mal gespannt, was kommt, und es wird immer spannender, denn gleich ist das Ende des Textes erreicht, ich sehe es schon, das Ende des Textes, und denke, viel Platz hat er jetzt aber nicht mehr, um das noch hinzukriegen. Trotzdem noch ein Fragezeichen und noch eins und dann endlich der Satz ohne Fragezeichen. Nur ein Satz: Es wäre schön, wenn wir für den vierten Kapitalismus demnächst eine paar Antworten auf diese Fragen hätten. - Kein Scheiß! So steht das da. Das ist seine Antwort. Das ist sein Schlusssatz. Ist es das, was von der Sozialdemokratie übrig geblieben ist? Oder ist das einfach nur Faulheit? - Nachdem der Laden des verschmitzten Herrn zusammengebrochen war, hat er einen Taxi-Führerschein gemacht und sich von dem Geld, was er aus der Pleite retten konnte, ein Taxi gekauft. Inzwischen ist er 66. Seit einem Jahr bezieht er eine Rente, fährt aber immer noch Taxi. Im Schnitt sechs Stunden am Tag. Hinterher hatte ich das Gefühl, dass er es richtig darauf angelegt hat, mir das mit der Pleite und dem Taxifahren zu erzählen, und dass er stolz auf diese Geschichte ist. - In der aktuellen Spex (#328) gibt es auch lesenswerte Texte, zum Beispiel das Interview mit René Pollesch. Mehr dazu demnächst und dann auch wieder ganz viel über mich. - Auf der beiliegenden CD zur Spex hat mir nur ein Stück gefallen: Stella, Nobody Can Do Me No Harm. Hier ist es.