Montag, 13. September 2010

Melanie

Zum ersten Mal in der neuen Wohnung Michaels in der Husemannstraße. Hier würde ich sofort einziehen. Die viele (Original) Kunst an den Wänden würde mich nicht stören, obwohl ich es bei mir zu Hause so halte: Da ich mir keinen Pollock leisten kann, lieber keine Bilder an der Wand. Ich frage nach den Preisen der einzelnen Bilder. 1500, 2500, 5000, 10 000 Euro. In der Diele entdecke ich einen Originalabzug von einem Foto, das ich von einer älteren Ausgabe der Zeitschrift Dummy kenne: eine israelische Soldatin sitzt vor ihrer Waffe und schaut mit nachdenklicher/verträumter Miene in die Ferne (girl with far away eyes.). Wie oft habe ich dieses Foto betrachtet! Noch lange, nachdem ich die Zeitschrift gelesen hatte, habe ich sie herum liegen lassen und immer wieder das Titelfoto angeschaut. Keine Ahnung warum. Irgendwas ist an dem Foto. Es hat ein Geheimnis. - Auf dem Tisch vor der Soldatin mit der Waffe liegt eine Dose mit Waffenreinigungsspray, ein Schraubenzieher und Reinigungswerkzeug. – Jetzt, da ich das Foto in Originalgröße (134 x 105 cm) sehe, fällt mir auf, dass die junge Frau saubere Hände hat. Dass sie lange, gefeilte, lackierte Fingernägel hat, habe ich immer schon bemerkt; das und den Kontrast zu der Waffe, auf der ihre manikürten Hände liegen. Aber jetzt bemerke ich zum ersten Mal, wie sauber die Hände sind, und dass sie eigentlich schmutzig sein müssten. – Wenn wir so eine Waffe zerlegt und gereinigt hätten, dann wären wir hinterher eingesaut bis zu den Ellbogen, sage ich zu Michael. Er meint, vielleicht hat sie sich für das Foto vorher noch rasch die Hände gewaschen. - Dann ist es aber keine Momentaufnahme, sage ich. Dann hat sie sich extra für das Foto so hingesetzt. Dann hat sie extra für das Foto so ein Gesicht gemacht. Dann ist es gestellt. Das kann aber eigentlich nicht sein. Weil das schafft sie nicht, auf "Achtung! Und jetzt bitte!" so zu gucken und dieses Far-away-eyes-Gesicht aufzusetzen, das dem Foto sein Geheimnis gibt. Und das Geheimnis ist, was sie gerade denkt. - Experimentelles Gequatsche, das zu nichts führt. – Das Mädchen heißt übrigens Melanie, sagt Michael. Das ist auch der Titel des Fotos. Es gehört zu einer Serie mit dem Titel Women of the Israel Defense Forces, die der iranisch-amerikanische Fotograf Ashkan Sahihi im Herbst 2003 aufgenommen hat. – Zu Hause krame ich das alte Dummy-Heft heraus, dessen Titelbild ich so oft angeguckt habe wegen seines Geheimnisses. Im Heft weitere Fotos aus Ashkan Sahihis Serie. Titel der Bildstrecke: Die Waffen der Frauen. - Müsste es nicht eigentlich heißen: Die Waffen der Mädchen? Denn die Rekrutinnen, die wir sehen, sind alle noch im Teenageralter und ihre Ausbilderin, die Offizierin, würde ihre gute Figur genau so gut als Anführerin einer Cheerleadergruppe machen. Cheerleader-haft auch die Stimmung in den Gruppenaufnahmen. Immer im Gegensatz zum streng Militärischen der Tarnkleidung und der lässig, Lauf nach unten, umgehängten Sturmgewehre. - Ich betrachte die Hände der Mädchen. So weit das zu erkennen ist, haben sie alle lange, gefeilte, lackierte Fingernägel. Wie Melanie. Und wo ist die? Auf einem Foto umarmt sie ein anderes Mädchen von hinten und schaut, was das andere Mädchen in der Hand hat; vielleicht einen Käfer oder eine Blume. In einer zweiten Situation, die die Mädchen in einem Raum versammelt zeigt, steht Melanie im Hintergrund neben einem Rucksack mit einem Feldtelefon. Sie hält den Telefonhörer ans Ohr und schaut aus dem Bild heraus zum Betrachter, ohne direkt in die Kamera zu gucken – mit dem geschulten Blick eines Models. Dieses Foto zeigt es: Sie ist ein Model! Und wenn man es erst mal weiß, dann sieht man es auch. Sie passt nicht in die Gruppe der Rekrutinnen. Sie ist es gewohnt, fotografiert zu werden. Und sie ist auch kein Model, das gerade seinen Militärdienst ableistet. Ihr Gesicht ist gepflegter als die Gesichter der anderen Mädchen. Sie lebt nicht unter den gleichen Bedingungen wie sie. – Das Foto von ihr mit der Waffe und dem Geheimnis ist gestellt. Das Geheimnis des Fotos ist, dass es gestellt ist. Es erzählt nichts von den israelischen Mädchen, die bei der IDF ihren Militärdienst ableisten, es erzählt von dem, was der Fotograf Ashkan Sahihi sich dazu denkt. Später noch, und das ist das einzig Interessante an dieser, ich gebe es zu, langweiligen Geschichte: Meine Feststellung, dass Melanie schmutzige Finger haben müsste, war Unsinn. Denn was wir sehen, kann schließlich auch der Moment sein, bevor sie mit dem Reinigen der Waffe beginnt. Der Anfangsverdacht war also falsch. Doch der Verdacht selbst hat sich bestätigt. Und es ist wohl so, dass ich, wie der Fotograf, fasziniert bin von Mädchen mit Schusswaffen und die gleichen vagen romantischen Vorstellungen mit ihnen verbinde wie er.