Sonntag, 26. September 2010

Marathonlauf

Das mit der Tess. Dass das auch ein Glück ist. Dass sie immer noch da ist auf ihre Art. Mit dem Licht und wie sie sonst Präsenz zeigt. Dass sie sich nicht abgewandt hat von mir. Und dass sie einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat, dass ich sie mir nicht klein oder schlecht reden kann. Deshalb stelle ich mich heute gegen 10 Uhr im Regen auf den Mittelstreifen der Grunewaldstraße und warte auf die Spitzengruppe des Marathonlaufs, aber eigentlich darauf, dass die Tess plötzlich hinter mir steht. So wie letztes Jahr, als ich mir so lange unsicher war, ob sie es ist oder nicht; bis sie es satt hatte, und als ich mich dann schätzungsweise zum zehnten Mal nach ihr umschaute, war sie verschwunden. Damals schien die Sonne und sie hatte eine große Sonnenbrille auf. Eine abgetragene schwarze Strickjacke hatte sie an und darunter eine Bluse mit einem Muster aus bunten Rechtecken. Sie war ganz anders gekleidet als bei früheren Gelegenheiten, bei denen ich sie gesehen hatte. Vor allem die hautengen schwarzen Jeans und die schwarzen Turnschuhe mit den dicken Sohlen und dazu die heruntergerollten Wollsocken passten überhaupt nicht zu ihrem Kleidungsstil oder dem, was ich bis dahin für ihren Kleidungsstil gehalten hatte. Im nachhinein bezweifle ich jedoch, dass es tatsächlich diese ganz andere Art ihres Angezogenseins gewesen ist, die mich so unsicher gemacht hat. Rückblickend denke ich, dass es mir gerade recht war, mir nicht sicher sein zu können. Weil ich meiner selbst nicht sicher war. Weil ich mich nicht getraut habe, sie anzusprechen. Weil ich es mir nicht zutraute, ihr zu gefallen. Weil ich fürchtete, sie zu enttäuschen mit meiner Realität. Und weil ich mir selbst nicht gefallen habe damals. - Jetzt bin ich meiner sicher. Jetzt würde ich mich trauen. Aber heute hat sie nicht plötzlich hinter mir gestanden auf dem Mittelstreifen. Ich hatte es allerdings auch nicht für sehr wahrscheinlich gehalten, dass sie da auftauchen würde. Ich wollte nur die geringe Möglichkeit nicht ausschließen. Deshalb habe ich auch nicht länger gewartet, ob sie vielleicht doch noch kommt, und bin nach Hause gegangen, nachdem die Spitzengruppe mit den afrikanischen Läufern, die das Rennen unter sich ausmachen, durch war. Wie schon im Vorjahr habe ich mir reflexartig eine Wiederholung in Zeitlupe gewünscht, nachdem die zehn, zwölf Läufer an mir vorbei gerannt waren, weil man einfach nicht so schnell gucken kann, wie die rennen. Viel zu schnell, um in die Gesichter schauen zu können oder sich ein Bild von der Gruppe zu machen, um unterscheiden zu können, welche Läufer nur Tempomacher sind und aussteigen werden, nachdem sie sich ausgegeben haben, und wer die volle Distanz laufen wird. Mit dieser Geschwindigkeit. Über 42 km. Das habe ich mir dann vorzustellen versucht auf dem Heimweg: Was für eine Lust das sein muss, 42 km in diesem Tempo zu laufen.