Dienstag, 14. September 2010

Erschöpft

Das wertvolle Gespräch mit der TV-Produzentin. Realitätskontakt. Dialog mit jemandem, der sich am Publikum orientiert, ausschließlich am Publikum orientiert. Sie hat lange in exponierter Position bei Fernsehsendern gearbeitet. Sie hatte einmal einen spektakulären Quotenerfolg; ich lasse weg welchen, um ihre Anonymität zu wahren. Sie weiß, was sie tut, wenn sie meine Einfälle befragt und auseinander nimmt, so dass aus meinem Plotansatz am Ende zwei Plotansätze werden: Ein, wie sie selbst sagt, trivialer, der für ihren Auftraggeber in Frage kommt und für den sie Sendergeld zur Entwicklung hat. Und ein Ansatz, der sie persönlich auch mehr interessiert, aber dafür hat sie kein Geld, da müssen wir zusammen einen Geldgeber finden. Ich will das Gespräch mit ihr fortsetzen. Das ist das einzige vorläufige Ergebnis. Alles andere kann ich erst entscheiden, wenn ich weiß, was ich will. Und das weiß ich heute nicht. Mehr Fragen als Antworten und über dem ganzen Tag steht die Notiz von heute Morgen: Was mache ich? Die Phantasie auf die Realität loslassen. Aber geht das nicht besser? - Gemeint: anders. Ganz anders. Als mit dem kleinteiligen Geplotte. – Nach dem dreistündigen Gespräch mit der TV-Produzentin bin ich trotz entspannter Atmosphäre und gleicher Wellenlänge völlig ausgelaugt, weil ich es nicht gewohnt bin, so lange konzentriert zuzuhören. Denn die TV-Produzentin äußert sich sehr ausführlich. Außerdem bin ich völlig ausgehungert und beim Umsteigen auf der Rückfahrt deshalb so wuschig, dass ich einen Moment unsicher bin, ob ich eine Station zu früh ausgestiegen bin, in den U-Bahnwagen zurückgehe und wie ein desorientierter Tourist eine Frau frage: Ist das hier Mehringdamm? – Es ist Mehringdamm. – Ich wechsle auf die andere Seite des U-Bahnhofs zum Bahnsteig Richtung Rathaus Spandau. Als ich in den U-Bahnwagen einsteige, bemerke ich auf der Sitzbank schräg gegenüber dem Eingang eine Frau, die ihre Beine auf die Bank gelegt hat. Ich trete in den Gang, um zu schauen, was das für eine Frau ist. Es ist zu meiner Überraschung die gern gesehene Nachbarin, mit der ich mich so gerne unterhalte. Sie bemüht sich um ein Lächeln, nimmt ihre Beine von der Sitzbank, macht eine einladende Geste, mich neben sie zu setzen, sagt aber gleich: Ich bin völlig fertig. Ich kann nicht reden. – Ich halte die Klappe, antworte ich und erkläre, dass ich in der U-Bahn lieber stehe. Um sie ganz ungestört sein zu lassen, trete ich aus ihrem Blickfeld und stelle mich neben die mittlere Haltestange auf der Plattform. Von dort aus beobachte ich sie aus den Augenwinkeln. Sie trägt zum kurzen Rock hellgraue Strümpfe, die durchsichtig wären, wenn nicht ein blassrot, -blau, -grünes Blümchenmuster auf ihnen ausgestreut wäre, und an den Füßen dunkelbraune Ballerinas, doch es sind eigentlich keine Ballerinas, es sind diese klassischen Mädchenschuhe mit einem Riemchen über den Spann. Auf ihrem Schoss liegt ein Ordner mit rotem Plastikeinband. Darauf ein neues Taschenbuch, Titel nach unten. Ich wüsste gerne, was das für ein Buch ist. Ich wüsste auch gerne, warum sie so erschöpft ist, dass es schon weh zu tun scheint. Ich weiß, dass sie als eine Art Verhaltenstrainerin arbeitet, mit schwierigen Jugendlichen. Mehr weiß ich nicht. Eisenacherstraße steigen wir beide aus. Sie geht wort- und blicklos an mir vorbei. Auf der Rolltreppe bleibe ich mehrere Stufen hinter ihr. Und einer der Gründe, warum ich mich entschließe, einen Umweg zur Konditorei zu machen, ist, dass es mir bizarr vorkommt, jetzt den ganzen gemeinsamen Nachhauseweg mit verlangsamten Schritten hinter ihr her zu gehen, um sie nicht überholen zu müssen. - Was wird sie machen? Zu Hause wird sie sich hinlegen und schlafen oder wenn sie zu aufgewühlt dazu ist, sich wenigstens ausruhen. Danach wird sie mit ihrem schönen Hund durch den Regen gehen und dann wird sie bestimmt auch wieder lachen oder wenigstens ohne Mühe lächeln können. Gleich, was vorgefallen ist bei ihrer Arbeit, am Ende des Tages wird sie wissen, was sie getan hat. Während ich mich den Rest des Tages mit meinen Zweifeln beschäftigen werde und morgen, wenn es gut geht, weiß, was ich tun werde.