Sonntag, 5. September 2010

Lüder

Lüder kommt aus Hannover. Seine Mutter ist aus Bremen; da ist Lüder ein Vorname. Lüder war nicht Finanzsenator von Berlin. Lüder wird nicht von dem Neuköllner Bezirksbürgermeister mit krassen Schoten über Sozialhilfemissbrauch und Gewalttaten arabischer Jugendlicher versorgt. Lüder hat mal in Friedrichshain gelebt, seit 3 Jahren wohnt er in der Nähe des Innsbrucker Platzes. – Erfahrungen mit ausländischen Mitbürgern? –  Da fällt Lüder als erstes die Empfindlichkeit von jungen Türken ein – zum Beispiel in der U-Bahn, wenn sie sich wegen eigentlich nichts gleich diskriminiert fühlen. - Und arabische Jungendliche? - Ein Freund von ihm hat mal von arabischen Jugendlichen aufs Maul gekriegt. Ein anderer Freund von ihm hat von deutschen Jugendlichen aufs Maul gekriegt. Glatzen. – Wo war das? – In Friedrichshain. – Da gibt es Glatzen? – Die kamen dahin. – Aus Lichtenberg? Um Linke aufzumischen? - Um was zu erleben. - Es hat sich dann eine Bürgerwehr organisiert. Nicht nur von Linken. Von allen möglichen Leuten. Die haben ein Alarm-System organisiert. Wenn die Skins kamen, haben sie das sofort der Polizei gemeldet. – Keine Haare auf dem Kopf und nichts im Kopf, meint Lüder. Jungs, die sich nur in der Gruppe stark fühlen.  - Lüder ist Musiker: Gesang, Gitarre, Komposition. Er hatte als Komponist mal einen Titel in der österreichischen Hitparade, Zur Zeit produziert er drei Songs für eine Abschlussarbeit der Filmhochschule in Singapur.  Die Schule ist ein Ableger einer New Yorker Filmhochschule. Der Film wird auf jeden Fall international wahrgenommen werden, sagt Lüder. Am Wochenende arbeitet er hinter dem Tresen vom Gottlob, an zwei weiteren Tagen in einem Restaurant am S-Bahnhof Friedenau. Er hat eine fünf Jahre alte Tochter, die er jeden Werktag von der Kita abholt und abends zu ihrer Mutter bringt. Zum Fernsehen hat Lüder keine Zeit und Zeitung liest er nur, wenn bei der Arbeit gerade nichts los ist. Die Kollegin aus dem Service stellt sich neben ihn und sagt ihm was ins Ohr. Ich höre: Männerklo. Vor die Toilette gekotzt. - Lüder weg. Um mich zu vergewissern, ob ich richtig gehört habe, frage ich die Kollegin, was Lüder jetzt macht. – Erbrochenes wegwischen, sagt sie. – Ich gehe raus zum Rauchen. Ich denke an den Blog und an jemanden, der nicht da ist. Zurück am Tresen beobachte ich Lüder, wie er sich bewegt, wie er immer was mitnimmt, wenn er von a nach b geht, wie er arbeitet und zugleich auch immer aufräumt. Du bewegst dich sehr überlegt und effizient, sage ich zu ihm. -  Das geht an diesem Tresen aber auch sehr gut, sagt er. – Wenn ich einen Laden hätte, würde ich dich sofort engagieren. – Darauf sagt er nichts. Vielleicht hat er es gar nicht gehört. Vor vier Jahren hatte er einen Hörsturz. Tinnitus, sagt er. Ich habe vergessen zu fragen, wie das denn? – Wirst Du denn korrekt bezahlt hier? frage ich jetzt. – Im üblichen Rahmen. – Und warum musst Du als Fachkraft Kotze aufwischen? – Einer muss es machen. – Warum Du? Das kann doch auch jemand aus der Küche machen, der da sowieso schon putzt. – Es macht mir nichts aus. – Lüder fragt mich, warum ich ihn auf die ausländischen Mitbürger angesprochen habe. – Ich komme mir komisch dabei vor, es ihm zu erklären. Ich informiere ihn so knapp wie es geht über die aktuelle Migranten-Debatte: Sachverhalte und ein Typ, der sie mit Verächtlichkeit und Abfälligkeit rüberbringt; die Verachtung und das Abfällige kommen gut an; eine notwendige Diskussion findet statt.  - Es ist kein Thema für uns. Ich erzähle ihm dann noch von einem Traum in der vergangenen Nacht. Es ging um einen toten Freund, der ziemlich prätentiös war. In dem Traum habe ich ihm dargelegt, dass er kein Intellektueller ist. Das Abgefahrene an dem Traum war aber nicht diese Szene, sondern das waren die toten Vögel, die es in dem Traum gab. Einer, muss mal ein Riesentier gewesen sein, lag zerschmettert am Boden, sein Gefieder verstreut,  und ein anderer saß da, so wie er vom Himmel gefallen war, gewissermaßen auf den Arsch gefallen,  die Schwingen ausgebreitet und der lange Hals mit dem Kopf auf die Brust gesunken. Irres Bild. – Sind Vögel nicht auch Todesboten? fragt Lüder. – Weiß ich nicht, sage ich. Kann sein. - Im Detail reden Lüder und ich völlig aneinander vorbei. Aber im Ganzen verstehen wir uns sehr gut. Zu dem sitzenden toten Vogel fällt mir der versteinerte Raumfahrer auf dem Alien-Planeten ein. Kennt Lüder. Ridley Scott. Alien-Design H.R. Giger. Eine weitere Assoziation ist ein Text vom frühen Biermann. Ich zitiere: Was soll aus uns nur werden / Uns droht so große Not / Vom Himmel auf die Erden /Falln sich die Engel tot (...) .  - Das gefällt Lüder:  Vom Himmel auf die Erden / Falln sich die Engel tot. - Aber, meint er, das würde heute so nicht mehr gehen. - Natürlich nicht, sage ich.