Montag, 6. September 2010

Nofretete

Burnout Syndrom, depressive Episode, Anpassungs-störung. Depressive Episode kenne ich. Das geht wieder vorbei. Episode heißt, dass es wieder vorbei geht. Und sonst? Was will er denn? – Sein Gehalt wird weiter überwiesen. Der Krebs hat ihn nicht umgebracht. Und er hat eine Freundin, die 20 Jahre jünger ist als er und ihm neulich gesagt hat, dass sie ihm 100 Stunden Arbeit schenken will, um seine Schreckenswohnung mal von Grund auf zu überarbeiten. – Wann wirst du sie mir endlich mal vorstellen? Doch hoffentlich noch, bevor ihr heiratet? – Harmlose Frage und ernst gemeint, weil ich sehr, sehr neugierig bin. – Antwort darauf so überraschend, dass ich es gar nicht gleich merke in meiner ausgelassenen Stimmung; weiß auch nicht, woher die kommt, muss ich auch gar nicht wissen; wie herrlich, dass es mal wieder so ist. – Antwort Teil 1: Ausflüchte. So einfach ist das alles nicht. Sie ist anstrengend. – Na und? Alle interessanten Frauen sind anstrengend. Sind sie nicht anstrengend, sind sie langweilig. - Antwort Teil 2: Sie hat sich vor eineinhalb Jahren von ihrem Ehemann getrennt. Das hat sie noch nicht überwunden. Mit dem war sie über zwölf Jahre zusammen. Nun hilft er ihr, über die Trennung hinweg und von dem Ehemann los zu kommen. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. - Der Ehemann war sozusagen der Mann ihres Lebens? – Ja. - Antwort Teil 3: Am Tag zuvor hat er geheult. – Richtig geheult? – Ja. Weil er sich so unverstanden fühlte. – Du warst sowieso schon angeschossen gestern. Das habe ich gemerkt, als wir telefoniert haben. – Ja. Er war schon angeschossen. Der Pickel unter der Zunge. Der Knoten im Hals. Und dann schickt er ihr ein Foto, schreibt dazu liebevoll, dass sie da aussieht wie Nofretete. Sie ruft an, sagt, Nofretete, die ist doch schon tot, oder? – Sie weist das Kompliment zurück als Gesülze. Samstagabend damit gelaufen. Um halb eins nachts sitzt er da, alleine, hat einen Kloß im Hals. – Und Tränen in den Augen? – Nicht nur Tränen in den Augen. Geheult habe ich, richtig geheult. – Laut? Hast du laut geheult? – Nein, das machen Männer nicht. – Und warum genau hast du geweint? – Weil ich nicht mehr wusste, was das alles soll. Weil ich mutlos war. Und nicht mehr wollte. Nicht mich umbringen. Das würde ich nicht machen. Aber manchmal denke ich, Mensch, ich bin jetzt 61 Jahre alt. Das reicht doch. Das ist genug. – Und heute? – Habe ich wieder Mut. – Auch deshalb, weil sie um 6 Uhr morgens angerufen hat und wieder gut zu ihm war und sich verabredet hat mit ihm für den Abend. Er ist ihr bester Freund, aber sie liebt ihn nicht, sagt sie zu ihm. – Drama des älteren Mannes, der mit einer jüngeren Frau zusammen ist, sage ich. – Das erlebst du doch auch, sagt er. Das beschreibst du doch. – Ja, aber ich bin nicht mit ihr zusammen. So weit ist es nie gekommen. – Sei froh, sagt er. Denn dann ist alles noch viel schlimmer. – Weiß ich jetzt nicht. Ich komme auf meine Ausgangsfrage zurück: wann lerne ich seine Freundin kennen, und fasse seine drei Antworten zusammen: Du wolltest also sagen, dass das alles nicht so toll ist, wie ich angenommen habe aufgrund deiner bisherigen Erzählungen, und dass ihr als Paar (noch) nicht präsentabel seid. – Er widerspricht nicht. Später zeigt er mir das umstrittene Nofretete-Foto. Ich sage sofort: Das verstehe ich, dass ihr das nicht gefallen hat. Da sieht sie nicht gut aus. – Nein? fragt er verwundert. Ihm gefällt es. Ihm gefällt alles an ihr. Liebe. Burnout-Syndrom, depressive Episode, Anpassungsstörung und eine 20 Jahre jüngere Freundin, die sagt, er ist ihr bester Freund, aber sie liebt ihn nicht, und die mit ihm Jo-jo spielt, auch wenn sie es ganz bestimmt nicht so meint. - Hinterher mein Vorsatz, rücksichtsvoller zu sein ihm gegenüber und mehr auf ihn einzugehen. Damit fange ich später an, indem ich ihm eine Mail schicke. Ich bedanke mich für den schönen Nachmittag bei ihm, der wirklich schön war, weil wir auch viel gelacht haben. Und weiter schreibe ich: Weine nicht! Sei glücklich, dass Du das alles erleben kannst. - Das ist keine leere Kopf-Hoch-Rhetorik. Das ist ein authentischer Satz. Den habe ich mal zu mir selbst gesagt nach einem Moment, in dem ich beinahe verrückt geworden bin wegen der Tess. Inzwischen habe ich mich etwas beruhigt. Neue Phase. In der kenne ich mich noch nicht aus. Vorbei ist es nicht.