Samstag, 7. April 2012

Monika




Eine Frau ist Sozialarbeiterin und sieht überhaupt nicht so aus. Das hat sie auch schon von anderen gehört, sagt sie. Als sie erwähnt, dass sie aus einer Kleinstadt kommt, bin ich jetzt aber mal gespannt, aus welcher, denn an ihrem Akzent habe ich sofort erkannt, dass sie aus der gleichen Gegend kommt wie ich. Nordbaden. Und die Kleinstadt, die sie nun nennt, ist Heidelberg. Dort habe ich lange gelebt. Da freut sie sich, das zu hören, und als ich sage, dass ich ursprünglich aus Mannheim komme, da sagt sie, dort lebt ihre Tochter und die ist Künstlerin. In Berlin lebt die Frau, weil sie hier für Siemens arbeitet. Nicht angestellt, als Selbständige. Was macht sie als Sozialarbeiterin in einem Industrieunternehmen? Sie erklärt es mir an Fallbeispielen, denen gemeinsam ist, dass Leute keinen Leistungswillen mehr haben oder schon noch einen haben, aber nicht in der Lage sind, ihn zu zeigen, und deshalb vielleicht auffallen durch extrem lange Fehlzeiten. Ich wundere mich, dass solche Leute nicht einfach rausgeschmissen werden, und denke, solange Siemens eine Sozialarbeiterin beauftragt, um herauszufinden, warum im Unternehmen Beschäftigte keine Lust haben, zur Arbeit zu kommen, kann es so schlimm nicht sein da draußen in der Realität. Warum die Beschäftigten nicht zur Arbeit kommen wollen, ist ihnen selbst nicht immer klar oder sie gestehen es sich selbst nicht ein, weil sie zu stolz sind zuzugeben, dass sie es nicht ertragen, wie miteinander umgegangen wird in einer Abteilung oder wie ein Vorgesetzter sie behandelt, erläutert die Frau und jetzt verstehe ich, wofür Siemens sie braucht. Weil es in so einem Fall nicht nur um einen Einzelnen geht. Dem könnte man kündigen. Aber der Missstand, der seinen Leistungswillen gemindert hat, der würde weiter bestehen und den Leistungswillen anderer Angestellter auch schwächen, nur dass die nicht auffällig werden. Betriebsfürsorge nennt sich das, was die Frau macht, und das ist mit Doppelsinn zu verstehen: Fürsorge im Betrieb und für den Betrieb. – Was ich denn in Berlin mache, fragt sie mich. Da das, was ich aktuell mache, nicht so einfach zu erklären ist, antworte ich, dass ich Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben habe. – Ah, Drehbücher! Das würde sie gerne mal lernen, wie man ein Drehbuch schreibt. Warum? Weil es muss doch auch mal was anderes geben als diese ewigen Arzt-Serien. Wie viel interessantere Geschichten könnte sie erzählen von der Betriebsfürsorge. Das kann ich mir gut vorstellen. Aber die ewigen Arzt-Serien gibt es nicht aus Mangel an anderen Stoffen, sondern weil das Publikum nicht genug davon kriegen kann. Stimmt, sagt die Frau. Vor fünf Jahren wäre ich nach dieser Begegnung völlig aus dem  Häuschen gewesen und hätte mich zusammen mit der Frau eine Serie über Betriebsfürsorge schreiben sehen. Jetzt denke ich daran, wie lange ich gebraucht habe, um zu kapieren, dass das TV-Publikum sich nur begrenzt für Realität interessiert und für ihm unbekannte Realität gar nicht. Meine Karte habe ich der Frau trotzdem gegeben.