Einer meiner Lieblingsmenschen hat letztes Jahr ein Buch veröffentlicht. Autobiografisch. Ist sie dafür nicht noch zu jung, habe ich gedacht und wollte es nicht lesen. Im Sommer hat sie mir erzählt von einer erfolgreichen Lesereise mit dem Buch an Orte, wo sie sonst in ihrem Leben nie hingekommen wäre, und vor ein paar Wochen lag das Buch aus in der Stadtbibliothek Schöneberg. Ich habe es aufgeschlagen an einer Stelle, wo es um ihren Schriftstellerfreund geht, der ihr bester Freund ist, wie ich weiß und wie sie auch in dem Buch erzählt, nur dass sie ihm einen anderen Namen gegeben hat. Weil ich neugierig war auf Einblicke in ihre Freundschaft mit dem Schriftsteller, habe ich das Buch ausgeliehen und dann gesehen, dass sie in dem Buch auch ihrem Mann und ihren beiden Söhnen und ihrem anderen besten Freund, der der Pate ihres erstgeborenen Sohnes ist, andere Namen gegeben hat. Zwischendurch habe ich mich gewundert, dass sie sich nicht selbst einen anderen Namen gegeben hat. Aber dann hätte sie ihren Eltern auch andere Namen geben müssen. Und das wäre dann doch zu weit gegangen, weil ihre Eltern beide tot sind und sie, wenn ich es richtig verstanden habe, das Buch vor allem deshalb geschrieben hat, um ihren Vater und ihre Mutter zu ehren. Nachdem das geschehen ist, ehrt sie auch noch ihre Tante mütterlicherseits und da wurde es mir zu anstrengend und ich habe schon mal zehn Seiten da und zwanzig Seiten dort überblättert. Derweil hatte ich mich versöhnt mit den Umbenennungen, vor allem der des Schriftstellers, weil ich mir dachte, so klischeehaft, wie sie den darstellt mit seinen ständig wechselnden komplizierten israelischen Geliebten, kann der doch gar nicht sein, und deshalb schützt sie ihn vor ihrer Darstellung mit dem erfundenen Namen und indem sie ihm einen Job beim Fernsehen andichtet. Das war zugleich der Punkt, an dem ich dachte, ich brauche das nicht alles zu wissen. Aber dann hat es mich doch noch gepackt beim Blättern. Beginnend mit der Familienfeier, zu der sie nach New York gereist ist. Erst denke ich, alleine gereist. Doch es zeigt sich, ihr Mann und ihre Söhne sind auch dabei. Dann nämlich, als die Vier am Ende des Festprogramms zusammen ein jiddisches Lied vorsingen, das einzige, das sie können, und damit eine Mischung von Befremden, Entsetzen und Rührung bei den New Yorker Verwandten auslösen. Das Lied heißt: Glik, du bist gekummen, aber a bisl zu speyt. - Thank you, it was nice - it was nice and strange, sagt danach das Mädchen, das an diesem Tag zur Frau geworden ist. Das ist auf Seite 219. Und auf Seite 253 muss ich meine Brille abnehmen, um mir die Augen zu reiben, weil ich nichts mehr sehe, nachdem ihr Sohn zum Mann geworden ist und sie das so schön erzählt hat, dass ich zwei Tränen geweint habe vor Freude über ihr Glück.
Erst möchte ich ihr schreiben, um mich zu bedanken für den Glücksmoment. Dann lasse ich es lieber, weil ich ahne, dass sie irgendetwas Schnoddriges antworten wird und ich mir hinterher blöd vorkommen werde. Aber für den Fall, dass Du das lesen solltest, Esther: Dass Du eine Astrologin hast, hätte ich nicht gedacht.
Esther ist selbstverständlich ein erfundener Name.