Dienstag, 24. April 2012

Genthiner Straße




Wie ist die korrekte Bezeichnung? – Dirne? Hure? Nutte? – Dirne ist antiquiert. Hure klingt so pompös. Ich entscheide mich für Nutte, will aber gleich feststellen, dass ich damit keine Verachtung oder Geringschätzung zum Ausdruck bringe; für mich ist das ein Beruf so ehrenwert wie jeder andere. Soweit überhaupt irgendwas oder -wer noch ehrenwert sein kann in einer Epoche, in der das Arschkriechen so selbstverständlich ist wie die Gewohnheit, sich mindestens zweimal täglich die Zähne zu putzen, wenn man nicht ein Außenseiterdasein fristet wie ich oder ein Schweizer Künstler mit dem Namen eines renommierten Uhrenherstellers ist und in einem Café neben der Galerie sitzt, in der man gerade ausstellt, und die blonde Frau neben einem ist nicht die Galeristin. Die Galerie hat nämlich geschlossen heute. – Ich weiß. Und Sie haben einen Schlüssel und zeigen gleich Ihrer Begleiterin Ihre Ausstellung? – Ja. – Wohnen Sie hier in der Nähe? – Nein. – Sind Sie mit einem Stipendium in Berlin? – Nein. – Ich erzähle dann noch, dass er der Erste in einer Serie von Schweizer Künstlern war, die mir innerhalb weniger Tage begegnet sind. Nach ihm noch Franziska Rutishauser als Initiatorin und Inspiratorin im VBK; mich hat sie auch schon inspiriert, indem sie mir mehr Schalkhaftigkeit gewünscht hat (das kann was werden!). Danach Hans-Jörg Mettler, den verplauderten Plakatwand-Beschrifter. Schließlich die Fotografin Gabriella Hohendahl aus Winterthur, der ich nicht persönlich begegnet bin, nur ihre aufsehenerregende Fotokunst habe ich entdeckt, erzähle ich dem Mann, der mit der blonden Frau vor dem Café sitzt und sich das höflich anhört, obwohl es sich zieht, und was soll er denn auch dazu sagen? Selbst wenn er alles sagen kann, was er will, weil er niemandem in den Arsch kriechen muss, wenn er nicht will, so wie ich auch nicht alles sage, was ich sagen könnte, aus Menschenfreundlichkeit nicht. Aber das von der Nutte in der Genthiner Straße, das kann ich erzählen. Vorderer Teil der Genthiner bei den großen Möbelhäusern, wo Nachmittags schon die Nutten auf dem Bürgersteig auf- und abgehen auf der einen Seite der Straße, immer nur auf der einen Seite, auf der Möbel-Hübner-Seite, nie auf der anderen, wo zum Beispiel der ligne roset-Laden ist. Ich gehe jedenfalls auf der Möbel-Hübner-Seite und auf mich zu kommt die einzige Nutte, die heute um 14:15 da auf und ab geht, und als ich mich ihr auf etwa zehn Meter genähert habe und gerade meinen Blick auf Unendlich stellen will, um nicht von ihr angesprochen zu werden, da macht sie kehrt und als ich an ihr vorbeigehe, schaut sie in die andere Richtung und ich denke: So weit ist es jetzt also gekommen! Nicht mal mehr die Straßennutten interessieren sich für mich. – Eine Ecke weiter überlege ich, ob ich umkehren und die junge Frau fragen soll, ob ich sie fotografieren darf – von hinten, so wie ich sie zuvor wahrgenommen habe – um die eben erlebte Szene zu dokumentieren. Ich rede mir das aus, weil es sein könnte, dass sie oder sonst wer das als ausbeuterisch empfindet und ausbeuterisch bin ich nun wirklich nicht. Außerdem kommt sie bestimmt aus dem hintersten Bulgarien oder Rumänien und würde nicht verstehen, was ich meine, wenn ich sie frage: Darf ich Sie für meinen Blog fotografieren? Ich bin dann froh, dass ich nicht zurückgehen muss, und jetzt erst komme ich darauf, dass sie sich deshalb von mir abgewandt haben könnte, weil sie mit ihrer Nuttenpsychologie mich so eingeordnet hat, dass sie interessanter für mich wird, wenn sie sich abwendet, vielleicht ist das auch generell ihr Vorgehen und das womöglich auch deshalb, weil sie von hinten besser aussieht als von vorne. Oder sie hat sich daran erinnert, wie oft ich da schon vorbei gegangen bin, ohne mich für sie oder eine ihrer Kolleginnen zu interessieren. Oder – und das erscheint mir inzwischen am wahrscheinlichsten: Als sie auf mich zukam, hat sie gesehen, mit welcher kindlichen Gier ich an dem Mokka-Schokoladen-Eis geschleckt habe, das ich mir zuvor am Winterfeldtplatz gekauft hatte, und da hat sie entweder gedacht: Der hat schon alles, was er braucht. Oder: Was soll ich mit dem alten Kind anfangen?  


Ecke Gleditsch-/Winterfeldtstraße