Wie ist die korrekte
Bezeichnung? – Dirne? Hure? Nutte? – Dirne ist antiquiert. Hure klingt so
pompös. Ich entscheide mich für Nutte, will aber gleich feststellen, dass
ich damit keine Verachtung oder Geringschätzung zum Ausdruck bringe; für mich
ist das ein Beruf so ehrenwert wie jeder andere. Soweit überhaupt irgendwas oder -wer noch ehrenwert sein kann in einer Epoche, in der das
Arschkriechen so selbstverständlich ist wie die Gewohnheit, sich mindestens zweimal täglich die Zähne zu putzen, wenn
man nicht ein Außenseiterdasein fristet wie ich oder ein Schweizer Künstler mit
dem Namen eines renommierten Uhrenherstellers ist und in einem Café neben der
Galerie sitzt, in der man gerade ausstellt, und die blonde Frau neben einem ist
nicht die Galeristin. Die Galerie hat nämlich geschlossen heute. – Ich weiß.
Und Sie haben einen Schlüssel und zeigen gleich Ihrer Begleiterin Ihre
Ausstellung? – Ja. – Wohnen Sie hier in der Nähe? – Nein. – Sind Sie mit einem
Stipendium in Berlin? – Nein. – Ich erzähle dann noch, dass er der Erste in einer Serie
von Schweizer Künstlern war, die mir innerhalb weniger Tage begegnet sind. Nach
ihm noch Franziska Rutishauser als Initiatorin und Inspiratorin im VBK; mich
hat sie auch schon inspiriert, indem sie mir mehr Schalkhaftigkeit gewünscht hat (das kann was werden!). Danach Hans-Jörg Mettler, den verplauderten Plakatwand-Beschrifter. Schließlich die
Fotografin Gabriella Hohendahl aus Winterthur, der ich nicht persönlich
begegnet bin, nur ihre aufsehenerregende Fotokunst habe ich entdeckt, erzähle
ich dem Mann, der mit der blonden Frau vor dem Café sitzt und sich das höflich
anhört, obwohl es sich zieht, und was soll er denn auch dazu sagen? Selbst wenn er
alles sagen kann, was er will, weil er niemandem in den Arsch kriechen muss,
wenn er nicht will, so wie ich auch nicht alles sage, was ich sagen könnte, aus Menschenfreundlichkeit nicht. Aber das von der
Nutte in der Genthiner Straße, das kann ich erzählen. Vorderer Teil der
Genthiner bei den großen Möbelhäusern, wo Nachmittags schon die Nutten auf dem
Bürgersteig auf- und abgehen auf der einen Seite der Straße, immer nur auf der
einen Seite, auf der Möbel-Hübner-Seite, nie auf der anderen, wo zum Beispiel der ligne roset-Laden ist. Ich gehe jedenfalls auf der Möbel-Hübner-Seite und auf mich
zu kommt die einzige Nutte, die heute um 14:15 da auf und ab geht, und
als ich mich ihr auf etwa zehn Meter genähert habe und gerade meinen Blick auf
Unendlich stellen will, um nicht von ihr angesprochen zu werden, da macht sie kehrt und als ich an ihr vorbeigehe, schaut sie in die andere Richtung und ich denke: So weit ist es jetzt also gekommen!
Nicht mal mehr die Straßennutten interessieren sich für mich. – Eine Ecke
weiter überlege ich, ob ich umkehren und die junge Frau fragen soll, ob ich sie
fotografieren darf – von hinten, so wie ich sie zuvor wahrgenommen habe – um die eben erlebte Szene zu dokumentieren. Ich
rede mir das aus, weil es sein könnte, dass sie oder sonst wer das als
ausbeuterisch empfindet und ausbeuterisch bin ich nun wirklich nicht. Außerdem
kommt sie bestimmt aus dem hintersten Bulgarien oder Rumänien und würde
nicht verstehen, was ich meine, wenn ich sie frage: Darf ich Sie für meinen
Blog fotografieren? Ich bin dann froh, dass ich nicht zurückgehen muss, und jetzt erst komme ich darauf, dass sie sich deshalb
von mir abgewandt haben könnte, weil sie mit ihrer Nuttenpsychologie
mich so eingeordnet hat, dass sie interessanter für mich wird, wenn sie sich
abwendet, vielleicht ist das auch generell ihr Vorgehen und das womöglich auch deshalb,
weil sie von hinten besser aussieht als von vorne. Oder sie hat sich daran
erinnert, wie oft ich da schon vorbei gegangen bin, ohne mich für sie oder eine ihrer Kolleginnen zu interessieren. Oder – und das erscheint mir inzwischen am wahrscheinlichsten: Als sie auf
mich zukam, hat sie gesehen, mit welcher
kindlichen Gier ich an dem Mokka-Schokoladen-Eis geschleckt habe, das ich mir zuvor am Winterfeldtplatz gekauft hatte, und da hat sie entweder gedacht: Der hat
schon alles, was er braucht. Oder: Was soll ich mit dem alten Kind anfangen?