Post Rüstung. Zwei Kommentare fragen gleichlautend: Und weiter? - Antwort: Einmal hat sie erzählt, dass sie am Montagabend im Kino waren, im Cinema Paris. Wir haben uns Eine dunkle Begierde von David Cronenberg angeguckt, sagte sie. Mit Keira Knightley und Michael Fassbender als Carl Gustav Jung und Viggo Mortensen als Sigmund Freud. Und als sie über Freud sprach, hat sie gesagt: Freud gehörte ja zum auserwählten Volk. Da habe ich aufgehorcht, weil wenn jemand nicht einfach sagen kann, Freud war Jude oder Freud war jüdisch, dann ist das entweder ein Zeichen für antisemitische Neigungen oder ein Zeichen für Philosemitismus oder keins von beidem, wenn die Person auch sonst zu gewundenen Formulierungen neigt. Philosemitisch, das habe ich bei ihr sofort ausgeschlossen. Dass sie sich nur geschwollen ausgedrückt hatte, das war schon eher möglich. Und antisemitische Neigungen? Darauf wäre ich bei ihr von alleine nicht gekommen. Aber nun, da die Frage gestellt war, dachte ich: Ach ja! – Sie sprach dann über Freud wie viele uninformierte Gebildete. Die Traumdeutung gelesen im Studium und: Freud ist überholt. Dass die Neurophysiologen inzwischen Freud lesen als einen Schriftsteller, der wie niemand sonst psychisches Geschehen beobachtet und beschrieben hat, behalte ich in solchen Momenten lieber für mich und genieße es mitzuerleben, wie der Widerstand, der Freuds Theorie in ihren Anfängen entgegengebracht wurde, bis heute ungebrochen ist. In bestimmten Kreisen des Bürgertums. Denen sie angehört? Hätte mich mal interessiert. Aber sie sagte nichts mehr über Freud, sie erzählte nun, dass sie – wir – nach dem Kino Thilo Sarrazin auf dem Kurfürstendamm gesehen haben. Ohne Bodyguards sei der da gegangen, erzählte sie und machte dabei vor, wie er gegangen ist: erhobenen Hauptes, breit lächelnd. Da habe ich gleich noch mal Ach ja! gedacht, war mir aber wieder nicht sicher, wie ich das verstehen sollte. Imponierte ihr einfach nur das unbefangene Auftreten des Prominenten in der Öffentlichkeit? Oder imponierte ihr, wie furchtlos und selbstbewusst der bürgerliche Extremist sich gezeigt hat? So wie sie es wahrgenommen hat. Als eine Sympathisantin von ihm? Oder als Fernsehzuschauerin und Illustriertenleserin? Das ist sie nämlich auch noch. Wenn sie ihre Wäsche gewaschen hat in einem Waschsalon, den sie schon seit mehr als 30 Jahren aufsucht, geht sie danach in ein benachbartes Café und liest die dort ausliegenden Gala- und BUNTE-Hefte. Das macht sie alleine. Keine Rede von Wir im Waschsalon oder anschließend im Café. Und deshalb habe ich mir überlegt, ob die zweite Person des Wir vielleicht doch keine Frau ist, sondern ein Mann: ein als Philosemit getarnter Antisemit, Jungianer, Sarrazin-Sympathisant und die Lebensgefährtin hat sich um seine Wäsche zu kümmern, alleine. Witz! Um zu zeigen, dass es hier nicht um eine reale Person geht, sondern um ein Konstrukt - Protokoll meines psychischen Geschehens beim Anhören einer Erzählung. Die Erzählung allerdings authentisch. Schade nur, dass sie abgebrochen ist und keine Nachfragen möglich sind, weil wir nicht mehr miteinander reden, uns nicht einmal mehr angucken. Also: nichts weiter.
Montag, 16. April 2012
Illustriertenleserin
Post Rüstung. Zwei Kommentare fragen gleichlautend: Und weiter? - Antwort: Einmal hat sie erzählt, dass sie am Montagabend im Kino waren, im Cinema Paris. Wir haben uns Eine dunkle Begierde von David Cronenberg angeguckt, sagte sie. Mit Keira Knightley und Michael Fassbender als Carl Gustav Jung und Viggo Mortensen als Sigmund Freud. Und als sie über Freud sprach, hat sie gesagt: Freud gehörte ja zum auserwählten Volk. Da habe ich aufgehorcht, weil wenn jemand nicht einfach sagen kann, Freud war Jude oder Freud war jüdisch, dann ist das entweder ein Zeichen für antisemitische Neigungen oder ein Zeichen für Philosemitismus oder keins von beidem, wenn die Person auch sonst zu gewundenen Formulierungen neigt. Philosemitisch, das habe ich bei ihr sofort ausgeschlossen. Dass sie sich nur geschwollen ausgedrückt hatte, das war schon eher möglich. Und antisemitische Neigungen? Darauf wäre ich bei ihr von alleine nicht gekommen. Aber nun, da die Frage gestellt war, dachte ich: Ach ja! – Sie sprach dann über Freud wie viele uninformierte Gebildete. Die Traumdeutung gelesen im Studium und: Freud ist überholt. Dass die Neurophysiologen inzwischen Freud lesen als einen Schriftsteller, der wie niemand sonst psychisches Geschehen beobachtet und beschrieben hat, behalte ich in solchen Momenten lieber für mich und genieße es mitzuerleben, wie der Widerstand, der Freuds Theorie in ihren Anfängen entgegengebracht wurde, bis heute ungebrochen ist. In bestimmten Kreisen des Bürgertums. Denen sie angehört? Hätte mich mal interessiert. Aber sie sagte nichts mehr über Freud, sie erzählte nun, dass sie – wir – nach dem Kino Thilo Sarrazin auf dem Kurfürstendamm gesehen haben. Ohne Bodyguards sei der da gegangen, erzählte sie und machte dabei vor, wie er gegangen ist: erhobenen Hauptes, breit lächelnd. Da habe ich gleich noch mal Ach ja! gedacht, war mir aber wieder nicht sicher, wie ich das verstehen sollte. Imponierte ihr einfach nur das unbefangene Auftreten des Prominenten in der Öffentlichkeit? Oder imponierte ihr, wie furchtlos und selbstbewusst der bürgerliche Extremist sich gezeigt hat? So wie sie es wahrgenommen hat. Als eine Sympathisantin von ihm? Oder als Fernsehzuschauerin und Illustriertenleserin? Das ist sie nämlich auch noch. Wenn sie ihre Wäsche gewaschen hat in einem Waschsalon, den sie schon seit mehr als 30 Jahren aufsucht, geht sie danach in ein benachbartes Café und liest die dort ausliegenden Gala- und BUNTE-Hefte. Das macht sie alleine. Keine Rede von Wir im Waschsalon oder anschließend im Café. Und deshalb habe ich mir überlegt, ob die zweite Person des Wir vielleicht doch keine Frau ist, sondern ein Mann: ein als Philosemit getarnter Antisemit, Jungianer, Sarrazin-Sympathisant und die Lebensgefährtin hat sich um seine Wäsche zu kümmern, alleine. Witz! Um zu zeigen, dass es hier nicht um eine reale Person geht, sondern um ein Konstrukt - Protokoll meines psychischen Geschehens beim Anhören einer Erzählung. Die Erzählung allerdings authentisch. Schade nur, dass sie abgebrochen ist und keine Nachfragen möglich sind, weil wir nicht mehr miteinander reden, uns nicht einmal mehr angucken. Also: nichts weiter.