Freitag, 4. November 2011

Diskriminiert

Etwa so groß wie ich (1,80 m). Weißer Supermarkt-Kittel, enge Bluejeans. Mädchengesicht, schmale Hände, lange Finger. Gesicht und Hände stark gebräunt. Sie trägt Kopftuch. Meist ein schwarzes, manchmal ein leuchtend blaues. Sie trägt das Kopftuch lose um Kopf und Hals geschlungen, aber tief ins Gesicht gezogen. Und - wie es formulieren, ohne sittliches Empfinden zu verletzen?: Sie könnte ohne Kopftuch und ohne den schäbigen weißen Supermarkt-Kittel nicht begehrenswerter sein. Ich sehe, dass sie begehrenswert ist, aber ich begehre sie nicht, denn sie ist gerade mal Anfang 20 und es ist kurz nach 8 Uhr, wenn ich zur Kasse komme mit der Birne, die ich ausgesucht habe und von einem der Männer draußen habe wiegen lassen. Ich komme aus dem Hallenbad, habe eine Kapuze über meine nassen Haare gezogen und habe es noch eiliger als sonst, weil ich ausgehungert bin und schnell nach Hause will, um zu frühstücken. Bei unserem ersten Konflikt ging es darum, dass sie, als ich draußen mein Fahrrad abgestellt habe, noch an der Kasse stand; als ich mit der Birne und dem Preisschild, das ich mir an einen Finger geklebt hatte, in den Laden kam, war sie nirgendwo mehr zu sehen. Darauf habe ich Hallo gerufen und deswegen hat sie sich aufgeregt. Ich habe ihr gesagt, dass das ganz normal ist, dass Menschen rufen, wenn sie etwas wollen. Beim nächsten Mal hat sie lächelnd bemerkt: Jeden Tag eine Birne. Obwohl das nicht stimmte, weil ich nicht jeden Tag komme, habe ich ihr nicht widersprochen, weil es mich gefreut hat, dass sie diese persönliche Bemerkung gemacht hat. Da ich glaubte, wir hätten nun eine Vertrautheit, wie sie bestehen kann zwischen einer Kassiererin und einem Kunden, also eine Vertrautheit wie zwischen zwei Menschen, die sich nicht mehr ganz fremd sind, habe ich Anfang der Woche, weil sie bedrückt schien, sie gefragt, ob sie traurig ist oder einfach nur unausgeschlafen. Weder noch hat sie geantwortet und das so abweisend, dass ich mir gedacht habe, dass sie launisch ist und ich künftig ihr die Entscheidung überlassen sollte, ob wir mehr als Hallo und Tschüss sagen. Nun war es aber so, dass die Birne an dem Morgen 71 Cent gekostet hat und gestern Morgen hat sie wieder 71 Cent gekostet. Das habe ich überrascht festgestellt. – Sie teilnahmslos: Ach ja? – Da habe ich heute die gleiche Wahl getroffen wie beim letzten Mal, habe ich gesagt, um irgendwas zu sagen und nicht abrupt zu verstummen. Und dann habe ich noch hinzugefügt: Ich mache es heute etwas kompliziert. Womit ich angekündigt habe, dass ich Kleingeld bei ihr loswerden wollte. Ich habe ein 1-Cent-Stück und vier 5-Cent-Stücke genommen und wollte ihr die fünf Münzen in die hingehaltene Hand zählen, bevor ich ihr das 50-Cent-Stück gebe. Da hat sie auf einmal die hingehaltene Hand zurückgezogen. Im Reflex bin ich mit dem Geld in den Fingern ihrer Bewegung gefolgt. Darauf hat sie ihre Hand noch weiter zurückgezogen, als fürchte sie, ich wolle die Geldübergabe dazu missbrauchen, sie zu berühren. So habe ich es mir erklärt und so muss es auch gewesen sein. Denn darauf hat sie gesagt: Legen Sie das Geld dahin, und dabei hat sie auf eine Stelle neben der Kasse gedeutet. – Ich gebe seit Jahrzehnten Kleingeld in die Hände von Frauen und Männern, ohne sie zu berühren. Ich habe mich gedemütigt gefühlt, nachdem sie zweimal ihre Hand weggezogen hatte und dann auf die Stelle neben der Kasse deutete und sagte: Legen Sie das Geld dahin. Hinterher habe ich mir überlegt, dass sie entweder so launisch ist, dass man schon von einem Schuss sprechen kann, den sie hat, oder ihr Verhalten war diskriminierend. Ich denke, ihr Verhalten war diskriminierend. Sie hat mich diskriminiert als Mann oder als älteren Mann oder als Nicht-Angehörigen ihrer Religionsgemeinschaft oder Nicht-Angehörigen ihrer Ethnie - oder als Kunden, der nicht mehr als immer nur eine Birne kauft? - Nein, das ist Quatsch. Sie hat mich vermutlich auch nicht diskriminiert als Nicht-Türken und als Nicht-Muslim. Sie hat mich diskriminiert als Mann und als älteren Mann, indem sie mit ihrem Verhalten mir unterstellt hat, ich würde das Übergeben des Geldes dazu missbrauchen, sie zu berühren und womöglich hat sie in ihrem Wahn gedacht, ich wollte deshalb mit so viel Kleingeld zahlen, weil ich sie dann um so öfter berühren kann, während ich es ihr in die Hand zähle: mehrmals mit meinen Fingerkuppen ihren Handteller berühren, indem ich die Münzen einzeln hineinlege, um so – was? – Was stellt sie sich vor, was mir das bringt? Was ich dabei erlebe, wenn ich mit meinen Fingerkuppen ihren Handteller berühre? Oder handelte ihre Vorstellung gar nicht davon, dass ich dabei etwas erlebe? Handelt sie davon, dass ich etwas mit ihr mache? Ihr zu nahe trete? Ist ihr das schon mal passiert, dass ein Kunde sie mit diesem Kleingeldtrick überrumpelt und berührt hat? Muss ich jetzt auch noch Verständnis für ihr Verhalten haben, das ich in einer gestrichenen Passage dieses Textes als menschenverachtend verurteilt habe? Und wie komme ich hier raus, damit es weitergehen kann? – Es geht nur noch darum, wie ich rauskomme aus diesem Text. Denn in diesem Moment fühle ich mich nicht mehr gedemütigt. Ich habe ihr auch nichts mehr vorzuwerfen. Ihr diskriminierendes Verhalten ist mir verständlich geworden, indem ich mich in sie hineinversetzt habe. Da ich es gut mit ihr meine, schließe ich aus, dass ihre Wahrnehmung wahnhaft ist und nehme an, dass sie schon einmal erlebt hat, dass ein Mann sie beim Zahlen mit Kleingeld berührt hat. Was würde ich ihr sagen, wenn ich ihr Vater wäre? Ich könnte ihr Vater sein und wäre glücklich darüber, eine Tochter zu haben, die so aussieht wie sie. Was würde ich ihr sagen? – Ich würde sagen, verschränke deine Hände hinter dem Rücken, wenn ein Mann mit Kleingeld zahlen will und sage ihm, er soll das Geld neben die Kasse legen. – Das hat sie auch getan. Aber warum hat sie es nicht gleich getan? Warum hat sie zuerst mir ihre Hand hingehalten und dann erst, als ich ihr das Kleingeld hineinlege wollte, die Hand zurückgezogen, aber nicht ganz, nur ein Stück, und erst, als ich einen zweiten Versuch gemacht habe, ihr das Geld in die Hand zu geben, erst da hat sie die Hand ganz zurückgezogen. – Das habe ich in meiner Aufregung über ihr diskriminierendes Verhalten gar nicht beachtet. Hat sie mit mir gespielt? Hat sie die Hand nur hingehalten, um sie zurückziehen zu können? Ist denn anzunehmen, dass sie mit mir gespielt hat? Spielen Frauen Anfang 20 um 8 Uhr morgens an Supermarktkassen mit älteren Männern? – Nein. Wenn junge Frauen am frühen Morgen mit älteren Männern etwas machen, dann ist das kein Spiel, dann gibt es dafür mindestens einen ernsten Grund. In diesem Fall: Indem sie die Hand erst hinhielt, nur, um sie zweimal zurückzuziehen, kann der Grund nur gewesen sein: Sie wollte mir zeigen, ich lasse mir nicht mal Geld von dir in die Hand geben. - Warum wollte sie mir das zeigen? – Weil sie gemerkt hat, dass sie mir gefällt und sie darin keinen Sinn sieht, einem älteren Mann zu gefallen, der nicht mehr von ihr will, als in menschlich angenehmer Atmosphäre ein Birnengeschäft mit ihr zu machen. Sie wollte mich beleidigen. Sie wollte, dass ich eingeschnappt bin und sie fortan so scheiße behandle, wie sie drauf ist. - Entschuldigung. - Eben das wollte sie: Dass ich mich über sie ärgere und schlecht zu ihr bin. Es ist ihr nicht gelungen. Ich habe es gerade noch rechtzeitig gemerkt.

Die junge Frau mit dem Kopftuch hat mir mehr von sich gezeigt, als ich sehen wollte. Die Birnen, die ich in dem Supermarkt kaufe, sind Birnen der Sorte Santa Maria. Es sind die besten, die ich seit vielen Jahren gegessen habe.