Mittwoch, 16. Juni 2010

Spiegel

In meinem Selbstbild bin ich so um die 40. Wenn ich mich im Spiegel sehe, richtig sehe, nicht nur mal mit streifendem Blick beim Zähneputzen oder so nebenbei beim Rasieren, sondern wenn ich mich im Spiegel anschaue, dann bin ich jedesmal überrascht, wie alt ich aussehe. Das bringt mich aber keineswegs dazu, mein Selbstbild dem Spiegelbild anzupassen. Statt dessen reflexartig: Mann, sehe ich fertig aus heute. Muss unbedingt mal wieder ausschlafen. Oder: Sollte dringend mal wieder glücklich sein. - Gestern vom Einkaufen zurück kommend auf der Akazienstraße vor Don Antonio die beiden Lieblingskellner aus dem legendären kleinen Don Antonio: Giuseppe und Atilla. - Eine Zeit lang bin ich da fast jeden Abend essen gewesen. Wegen der Preise und der Gesellschaft. Da der Laden immer voll besetzt war, musste man an den Tischen mit Fremden zusammensitzen. Habe nirgendwo im Kiez so viele unterschiedliche, interessante Leute kennengelernt wie da. Einmal saß ich einem Typ gegenüber, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war. Er hatte seinen Liebhaber umgebracht und dann angefangen, ihn zu zerstückeln, um die Tat zu verbergen; das hat er nicht ausgehalten und hat sich gestellt, weswegen ihm mildernde Umstände angerechnet wurden beim Strafmaß, was er allerdings wieder zunichte machte, als er im Gefängnis einen Wärter fast totgeschlagen hat. Da er schwul ist, hat ihm im Knast nichts gefehlt, meinte er. Und als ich mich ans Zahlen machte, hat er ganz lieb gefragt, ob wir nach dem Essen noch was trinken gehen wollen, im Anderen Ufer (das hieß damals noch so). Da habe ich mich gefühlt wie das Gretchen und husch,husch weg war ich, so eilig, dass ich dabei fast meine Schühchen verloren hätte. Abschweifung Ende. - Spiegel. Atilla. Lieblingskellner. Bester Freund. Wie ein kleiner Bruder war er für mich. Wir haben uns gefreut, wenn wir uns gesehen haben. Er hat mich zuvorkommend bedient. Ich habe Abend für Abend geduldig sein Leid mit Senem angehört. Sie hat ihn rausgeschmissen in der Nacht. Jetzt ist es ein für alle mal vorbei! Sie ist eine Schlange! - Sie hat wieder angerufen. Sie haben sich zwei Tage lang versöhnt. - Sie hat ihn rausgeschmissen. Sie ist eine Schlange! ..  -  Amour fou. Immer im Kreis. Und ich war sein Vertrauter. Habe ihm Ratschläge gegeben. Habe für Senem gesprochen, habe sie ihm zu erklären versucht. Nicht nur, weil sie damals wirklich anbetungswürdig war (Senem = Türkisch für Geliebte; zum anbeten schön). Er hatte gar keine andere Wahl, als sie zu verstehen; so verfallen wie er ihr war, musste er es schaffen, mit ihr klar zu kommen. Dabei wollte ich ihm helfen. Bis ich dahinter kam, dass er das gleiche Gespräch wie mit mir mit jedem führte, der es hören wollte. Da war ich enttäuscht. Ich habe ihm zwar weiter zugehört, da er mich weiter zuvorkommend bedient hat und er weiter wie mein kleiner Bruder war. Doch hinter seinem Rücken habe ich mir mit Giuseppe das Maul verrissen darüber, dass er sich lächerlich macht, indem er jedermann "sein Herz ausschüttet". - Das ist mir gestern wieder eingefallen, als ich die beiden zusammen gesehen habe. Aber erst heute Morgen ist mir aufgefallen, dass ich hier nichts anderes mache als Atilla damals. Mit dem einzigen Unterschied, dass meine Geschichte ohne Rauswürfe und zweitägige Versöhnungen ist und es nicht mal Anrufe gibt in meiner Geschichte. Aber sonst: Jedem, der es "hören" will = lesen will, "schütte ich mein Herz aus". - Mache ich mich jetzt also auch lächerlich wie Atilla damals? - Ach was! Jetzt verstehe ich Atilla endlich. Wie gut ich ihn jetzt verstehe. Und Abbitte leiste ich, dass ich mir damals mit Giuseppe das Maul verrissen habe über ihn. So geht das.