Mittwoch, 9. Mai 2012

Stärke

Sie besteht darauf, nicht enttäuscht zu sein, dass der Grunewalder Galerist nicht ihrer Einladung gefolgt ist am Samstag, als sie ein kleines Fest gegeben hat, um ihren Freunden das Ensemble Vegetation 1, 2, 3, 4 zu zeigen, auf das du stolz sein kannst, so wie es jetzt an der Wand hängt, und auf den Sprung, den du damit gemacht hast in deiner künstlerischen Entwicklung, und deshalb ist es auch so sehr zu wünschen, dass die vier Bilder von einem anderen und größeren Publikum gesehen werden als in der Nachbarschaftsgalerie, wo die Galeristin jetzt Lesungen veranstaltet, aber deshalb kommen nicht mehr Leute wegen der Bilder, habe ich gestern schon zu Uliane gesagt, sage ich heute wieder, und dass sie behauptet, sie sei nicht enttäuscht, das habe ich am Samstag nicht verstanden, das verstehe ich immer noch nicht, und am Samstag, als du gesagt hast, du seist nicht enttäuscht, da stand jemand neben mir, der es auch nicht verstanden hat, sage ich, ohne den Namen der Person zu nennen. Sie fragt, ob es die Frau war, die sie zu meinem Erstaunen ihre Freundin nennt. Nein, mit der habe ich nicht ein Mal geredet am Samstag. Ich wäre dazu bereit gewesen, aber wenn die mit ihrem zähnefletschenden Lächeln auf mich zukommt, dann ist es aus bei mir und von ihrem gut durchbluteten Zahnfleisch, das sie gleich mitzeigt, habe ich da noch gar nicht geredet, mache ich auch lieber nicht, die Stimmung ist ohnehin schon gereizt zwischen Uliane und mir, gestern schon gewesen, heute wieder. Wo käme sie hin, wenn sie da schon enttäuscht wäre? Was meinst du, was ich schon alles erlebt habe, als Leute mich im Stich gelassen haben? Das gehört doch einfach dazu. Und am Samstag hat sie sich so wohl gefühlt mit ihren Gästen und ihre Freude daran gehabt hat sie, dass ihnen das Essen so gut geschmeckt hat – dir hat es doch auch geschmeckt, sagt sie. – Ja, ja. Das feine Vitello Tonnato, der Gorgonzola, wie ich noch keinen gegessen habe. Aber man kann sich doch an seinem Fest freuen und trotzdem enttäuscht sein über etwas, denke ich und spreche es nicht aus, denn es ist nun an der Zeit zu respektieren, dass sie nicht enttäuscht war, wenn ich keinen Krach mit ihr haben will. Tatsächlich sind wir, seit wir befreundet sind, noch nie so nahe daran gewesen uns zu krachen. Aber es würde nichts bringen. Danach würde sie immer noch darauf beharren, nicht enttäuscht gewesen zu sein, und ich würde sie immer noch nicht verstehen, würde ich sagen, auch im Streit noch den Respekt bewahrend. In Wirklichkeit jedoch habe ich längst verstanden, dass es sein könnte, dass jemand Enttäuschung als das Eingeständnis eines Fehlschlags betrachtet, und das darf nicht sein, wenn man eine Strategie der Stärke verfolgt. Umgekehrt allerdings wird der Fehlschlag nicht ungeschehen, wenn man nicht enttäuscht ist. Doch das macht nichts. Denn die Stärke bei der Strategie der Stärke ist die gezeigte Stärke, das Dastehen vor den anderen. Und das ist mir selbst so etwas von egal, dass ich mich nicht in die Freundin einzufühlen vermag. Es kann jedoch auch alles viel einfacher sein: Enttäuschung könnte bei Uliane ein Trauerzustand von solch epischem Ausmaß sein, dass es sich für sie nicht lohnt, wegen eines nicht in Erfüllung gegangenen Wunsches einen solchen Gefühlsausbruch hinzulegen, den sie selbst Enttäuschung nennen würde. Und überhaupt, was soll´s? – Den Galeristen wird sie demnächst anrufen, um ihn noch einmal einzuladen, zu einem Atelierbesuch, um ihm ihre vier neuen Bilder zu zeigen. Beim kuratierenden Malerkollegen, der am Samstag auch nicht da war, werde ich für sie nachhaken, obwohl ich ihr jetzt schon sagen kann, dass es mit dem nichts wird. Aber vielleicht täusche ich mich da auch.