Sonntag, 20. Mai 2012

Feuilletonistin


Sie hat mir erzählt, dass sie jetzt ein iPhone hat und übermorgen fliegt sie zur Frieze, die dieses Jahr zum ersten Mal in New York stattfindet. Ich habe meinen Blog erwähnt, als sie mich fragte, was ich so mache, und habe ihr meine Karte mit der Blogadresse gegeben. Vor drei Wochen war das. 

Heute kommt sie mir strahlend entgegen und ich weiß gar nicht mehr, ob sie Hallo gesagt hat, bevor sie mir eilends mitteilte, sie sei noch nicht dazu gekommen, meinen Blog zu lesen. Da schon hätte ich ihr am liebsten den Ton abgedreht, denn sie zu unterbrechen ist mir nicht gelungen, einen solchen Drang hatte sie, mir zu erzählen, dass sie meine Karte mit der Blogadresse sich so hingelegt hat auf ihren Schreibtisch, dass sie sie immer vor Augen hat, aber sie sei einfach noch nicht dazu gekommen, in meinen Blog reinzuschauen, denn wenn sie es tut, dann will sie sich dafür Zeit nehmen. – Jetzt endlich ich: Dass ich sie mag. – Und jetzt nicht mehr? – Nein, das geht parallel weiter. Aber unabhängig davon muss ich feststellen, wie dämlich das von dir ist, mir zu sagen, dass du meinen Blog  n i c h t  gelesen hast. Sag mir, wenn du ihn gelesen hast, oder sag nichts, aber bitte nicht, dass du ihn nicht gelesen hast. Ich begrüße dich ja auch nicht mit den Worten: Ich habe den Artikel, den du über die Frieze geschrieben hast in der taz nicht gelesen. Das mit ihrem Artikel habe ich in Wirklichkeit nicht gesagt, es ist mir eben erst eingefallen, nachdem mir klar geworden ist, wie es tatsächlich war. Nicht dämlich. Geschickt war es von ihr. Eine dieser kleinen Alltagsverlogenheiten, die das Leben von Leuten wie ihr so viel leichter machen. Sie hatte im Blog gelesen, genug, um eine Meinung zu haben. So wie ihre Meinung ist, wollte sie sich aber lieber nicht auf einen Dialog mit mir einlassen. Zu anstrengend. Daher wollte sie verhindern, dass es zu diesem Dialog kam, als sie mich sah. Daher die Dringlichkeit, daher der Energieaufwand, mit dem sie mir mitteilte, dass sie den Blog nicht gelesen hatte. Blöd und lästig bleibt es dennoch für mich. Genauso wenig, wie ich hören will, dass sie meinen Blog nicht gelesen hat, will ich miterleben, wie routiniert sie mit Leuten wie mir umgeht als gestandene Feuilletonistin. Gerade weil meine Sympathie für sie parallel weiterbesteht.

Es war ein Fehler, ihr die Karte mit der Blogadresse zu geben und den Eindruck entstehen zu lassen, es wäre mir wichtig, dass sie liest, was ich schreibe, wo ich selbst höchstens alle drei Jahre mal einen Artikel von ihr lese.