Aus Reumut wird Reuwut. Und das Ganze mit Uwe Tellkamp. Nässende Operationswunde, tropfnasser Verband.
Keine Panik. Beobachten. Am Nachmittag der erneuerte Verband wieder
nass und die Hose gleich mit. Eilfahrt mit dem Taxi nach Mitte. Auf die
Station, wo ich bis Donnerstag Patient war, kann ich nicht einfach so spazieren. Also Notfallambulanz: Rettungsstelle heißt das hier und
es dauert gar nicht so lange, bis ich einen mir bekannten Arzt sehe, der
mir versichert, dass nichts dabei ist, wenn Sekret aus der Wunde tritt.
Trotzdem sei es gut gewesen, dass ich gekommen bin. Ich hätte es mir
auch sparen kann, meint er damit. Jetzt könnte ich auf die Rückfahrt
mit dem Taxi verzichten. Stattdessen S-Bahn, U-Bahn und beim
Umsteigen am Zoo für das gesparte Geld die Taschenbuchausgabe von
Uwe Tellkamp, Der Turm kaufen (14 Euro). Doch ich bin schon längst
weiter, über die Reuwut hinaus. Reuwut: Der hat Hunderttausende von
Büchern verkauft mit seiner DDR-Biografie. Millionen TV-Zuschauer
waren bewegt von der zweiteiligen Verfilmung der Dresdner
Bildungsbürgertumsaga und ich habe, als sie erschienen ist (2008), eine Leseprobe auf Amazon überflogen und hatte das Gefühl, ich
betrete ein Zimmer, in dem fingerdick der Staub auf den Möbeln liegt, und als ich dann noch las, wie das Mondlicht sich verlor, a
u s n a de l t e vor den Wachtürmen Ostroms, da war es
aus, da war klar, das lese ich nicht, das ist Literatur aus dem
Museum. Genau so sieht er auch aus, der Tellkamp, und so kitschig ist er
mit seinem dichterischen Erweckungserlebnis am Nachmittag in einem
Garten mit roten Rosen (*). Du sparst viel
Zeit, wenn du so überlegen bist in deinem Urteil. Aber jetzt will
ich nicht mehr überlegen sein. Jetzt komme ich mir mickrig vor in
meiner Überlegenheit. Jetzt will ich Abbitte leisten und ich fange an mit Uwe Tellkamp, Der
Turm. Doch dann stoße ich am Morgen auf die gleiche Leseprobe wie
damals. Wieder lese ich, wie das Mondlicht a u s n a d e l t und wieder weiß ich sofort, es geht nicht, und dass das überhaupt nichts zu tun hat mit dem
Überlegenseinwollen, das ich mir nicht verzeihe: Ich kann keinen
Roman von einem Autor lesen, der Mondlicht schreibt und dazu a u s n
a d e l t. Das muss ich mir durchgehen lassen. Aber nicht, wenn ich
es nur dafür verwende, mich zu erheben über den Mann, der das dicke
Buch verfasst hat (und wie viele hundert Seiten Roman habe ich zuletzt
geschrieben?). Ich muss etwas anderes machen aus meinem Urteil. Und
gerade überlege ich, was, da bemerke ich, dass das Pflaster an
meinem Bauch klatschnass ist. Ich werde nicht panisch, aber von nun
an beherrscht natürlich die nässende Wunde mein Denken. Bis der
Arzt am Nachmittag in der Rettungsstelle mich beruhigt wegen des Wundsekrets. Das ist alles, was ich heute erreicht habe. Kein Durchbruch. Keine roten Rosen. Ein nasses Pflaster. Kein Erweckungs-, ein Verhinderungserlebnis. Kein Wikipedia-Artikel. Keine Reue. Ein mancher Roman wurde geschrieben, weil der Autor nicht genug Charakter hatte, keinen Roman zu schreiben. Nicht von mir. Von Karl Kraus. Ich will den Satz nicht mehr hören.