Mittwoch, 21. Dezember 2011

Korea

Über den Tod von Kim Jong Il, genannt der verstorbene Diktator, nur Überschriften gelesen. Angelockt von dem Satz: Die Trauerrituale für den verstorbenen Diktator Kim Jong Il werden immer inbrünstiger, schaue ich heute in einen Spiegel Online-Artikel. Werde enttäuscht, weil Inbrunst ist ironisch zu verstehen, bezieht sich auf die Inszenierung der Trauer im koreanischen Fernsehen. Werde aber gleich darauf entschädigt von der Neuen Zürcher Zeitung, die kolportiert, wie die Todesnachricht Südkorea erreichte: Ein einsamer Beamter habe sich über die Mittagszeit im Wiedervereinigungsministerium die Nachrichten des nordkoreanischen Fernsehens angeschaut und sei blass davongelaufen, um den Minister zu informieren, als er die schwarze Tracht der Sprecherin gesehen habe. 

Über Taewoo Kang habe ich schon so oft geschrieben, dass ich gerade gestern erst gedacht habe, dass ich ein kleines Lehrstück (*), das ich mir bei ihm abgeschaut habe, lieber anonymisiere, sonst fühlt er sich noch von mir verfolgt. Der Solaris-Effekt in meinem Leben: Prompt sitzt Taewoo heute an einem Internet-Arbeitsplatz, als ich zum Ausdrucken in die Bibliothek komme. Wegen unserer Vorgeschichte begrüße ich ihn verhalten und er erwidert den Gruß mit einer Miene, die mir zeigt: Der hat nicht nur die Schnauze voll von mir, der ist immer noch beleidigt und will es bleiben. Darüber darf ich mich nicht beklagen und auch nicht lustig machen. Wenn ich so denke über jemanden wie über ihn (nicht schlecht, aber schon sehr differenziert) und das auch noch ausspreche, weil ich alles ausspreche, dann ist der nicht nur beleidigt, dann will der einfach nichts mehr mit mir tun haben. Das muss ich respektieren, wenn ich zu dem stehe, was ich über ihn gedacht und geschrieben habe. Täte ich es nicht, könnte ich zu ihm hingehen und sagen: War alles nicht so gemeint. Wie es so geht beim Schreiben, ich habe übertrieben. Hier meine Hand. Vertragen wir uns wieder. – Aber es war alles so gemeint. Und nichts war übertrieben. 

Doch jetzt erwische ich mich dabei, wie ich zu ihm hingucke – Bibliothek – und überlege, was es wohl im Besonderen war, weswegen er nichts mehr mit mir zu tun haben will. Was soll das? Wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will und ich daran nichts ändern kann, wäre es wünschenswert, wenn ich auch nichts mehr mit ihm zu tun hätte. Schwer. Als ich vom Drucker zurück zum PC-Arbeitsplatz gehe, kommt er mir entgegen und wir schauen uns an. Keine Regung, kein Wort, als wir aneinander vorbeigehen. Bedrückend? Nein. Aber wie hat der jetzt geguckt? Ernst. Und trotzig? Oder traurig? Weil enttäuscht? Oder neutral? Ausdruckslos? – Er geht. Von draußen aus dem Vorraum höre ich seine Stimme. Dann ist er weg. Ich beschäftige mich immer noch damit, wie er geguckt hat, und das passt mir nicht. Meinetwegen passt es mir nicht. Denn es ist doch so: Wenn ich austeile wie gegen ihn, dann muss es mir das wert sein, dass danach nichts mehr ist. Schwer.

Ich leihe mir Thomas Bernhard, Alte Meister aus, bin abgelenkt vom Gespräch mit der Frau an der Ausleihe, und als ich die Bibliothek verlasse, erinnere ich mich an die Anekdote, wie die Nachricht vom Tod Kim Jong Ils Südkorea erreicht hat, das offizielle Südkorea. Denn es werden bestimmt noch ein paar andere Südkoreaner die Mittagsnachrichten im nordkoreanischen Fernsehen geschaut haben an jenem Tag. Wie es bestimmt auch einige Südkoreaner geben wird, die Kim Jong Ils Tod betrauern, aus menschlicher, politischer oder einfach nur koreanischer Verbundenheit. Und vielleicht gehört Taewoo zu ihnen. Zuzutrauen wäre es ihm, denke ich grinsend. Dann hätte er deshalb so geguckt, als er vorhin an mir vorbei gegangen ist. Weil er in Trauer ist. In Staatstrauer wegen dem verstorbenen Diktator, dem der in Seoul geborene, seit seinem zehnten Lebensjahr in Berlin lebende südkoreanische Kunstmaler vielleicht stets näher gestanden hat, als er zuzugeben bereit war. Aber nun, da im nordkoreanischen Fernsehen Millionen Trauernde immer inbrünstiger Abschied nehmen vor Porträts und Statuen des verstorbenen Diktators, in diesen schweren Stunden kann Taewoo es nicht mehr verbergen. Das glaube ich natürlich nicht im Ernst. Kann es allerdings auch nicht ganz ausschließen. Egal. Es hilft. Ich habe nichts mehr mit Taewoo zu tun. Ich bin mit meinen Gedanken in Korea und nur insofern bei ihm. 

(*) Die Gönnerin eines Malers freut sich darüber, in einer Weihnachtsausstellung ein Aquarell des Malers zu entdecken. Sie beugt sich vor, schaut auf den Preis und sieht: 800 Euro  (oder sind es 900?). Der hat sie ja nicht mehr alle, sagt sie kopfschüttelnd. Ich weiß seit langem, wie der Maler bei den Preisen für seine Bilder hinlangt, und sage: Wenn er schon nichts verkauft, dann möchte er das eben zu einem möglichst hohen Preis tun. – Das war sarkastisch gemeint, also spöttisch. Inzwischen denke ich jedoch, dass ich es genauso machen sollte wie der Maler.