Sonntag, 18. Dezember 2011

Langzeitstudie




… gemeinsam mit über 5000 Personen aus dem Raum Heidelberg haben Sie vor ungefähr 20 Jahren an einer Befragung zu den gesundheitlichen Auswirkungen psychologischer Faktoren teilgenommen. Auszufüllen war ein Fragebogen so dick wie ein Schulheft, es gab 25 oder 30 Mark als Anreiz; das wäre nicht nötig gewesen, ich hätte auch so teilgenommen im Gefühl, etwas für die Menschheit zu tun, und die Frage, die mir am besten gefallen hat, war, ob es in meiner Nachbarschaft jemand gibt, zu dem ich gehen kann, um mir Werkzeug zu leihen. 2001 gab es wieder Post vom Psychologischen Institut der Universität Heidelberg. Sie hatten mich unter meiner Berliner Adresse ausfindig gemacht. Dazu hatte ich sie mit meiner Unterschrift ermächtigt, meine neue Adresse zu recherchieren beim Einwohnermeldeamt. Dem Kuvert mit dem zweiten Fragebogen lagen Utensilien bei für eine Mundspülung, mit der aus meiner Mundschleimhaut Zellen gelöst werden sollten, um anschließend in einem Röhrchen mit von mir ausgespuckter Mundspülflüssigkeit portofrei nach Heidelberg geschickt zu werden. Sie wollten eine Genomanalyse machen bei den über 5000 Befragten. Das Ergebnis würde natürlich anonymisiert ausgewertet, versicherten sie im Begleitschreiben und ich musste keine Sekunde nachdenken. Den Fragebogen füllte ich allerdings aus. Zehn Jahre später kommt ein Schreiben, das mich informiert über erste Ergebnisse der Heidelberger Langzeitstudie zu Risikofaktoren und Diagnose chronischer Erkrankungen (HeiDE). Obwohl das erst vor wenigen Monaten war, kann ich mich an keine Einzelheiten mehr erinnern, nur noch daran, dass ich hinterher dachte: was sie da herausgefunden haben, das hätte ich ihnen auch vorher sagen können, falls sie es wirklich nicht selbst gewusst haben. Nullforschung. Kurz darauf in der Post ein wattiertes weißes Kuvert, in dem ich die Utensilien für die Mundspülung tasten kann. Ich öffne es nicht, werfe es aber auch nicht weg, weil ich mit einem Anruf einer Institutsperson rechne – und für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Institutsperson darauf eingehen sollte, wenn ich sage:  Für einen Betrag von 500 bis 1000 Euro können Sie genetisches Material aus meiner Mundhöhle haben. Sonst gilt mein Grundsatz: ich will nicht, dass es irgendwo Erkenntnisse über mich gibt, die ich selbst nicht habe und die ich auch nicht haben will. Ich möchte mich von meinem biologischen Schicksal überraschen lassen. Selbst, wenn mir gar nichts anderes mehr einfiele, würde ich keine Genomanalyse von mir machen lassen. Außer wir reden über Geld, mindestens 500 Euro. – So viel Geld haben wir nicht, meinte darauf die Institutsmitarbeiterin, die mich letzte Woche anrief. Sie sagte das lachend und machte keinen Versuch, mich umzustimmen. Aber den Fragebogen könnte ich doch ausfüllen. – Fragebogen? Da ich das weiße Kuvert nicht geöffnet hatte, wusste ich nichts von einem Fragebogen. ICH WUSSTE NICHTS VON DEINEN UFERN! ICH WUSSTE NICHTS VON DEINEM  FRAGEBOGEN! Und dass du tief im Wald wohnst. – Gestern fülle ich den 20seitigen Fragebogen aus. Körpergröße? 180 cm. Körpergewicht? Weiß ich nicht. – Dann schätzen Sie. – Keine Lust. Ich lasse die Frage unbeantwortet. Und hat die Schlamperei erst einmal angefangen … .  Wann ich wo wie lange gelebt habe?  Jeweils mit Altersangabe von … bis ... . – Wer hat das schon so haarklein parat? Das ist mir zu mühsam, das zu rekonstruieren. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl der Zumutung. Die Fragen sind langweilig und immer wieder scheint die Stereotypie der Grundannahmen durch. Die Biederkeit dieser Art von Wissenschaft und ihr Sich-Ranschmeißen an den Zeitgeist. Gut erkennbar an einer Frage, die sie bereits im ersten Fragebogen, vor 20 Jahren schon hätten stellen müssen, aber nicht gestellt haben, weil sie damals noch nicht Konjunktur hatte: Hat jemals irgendjemand Sie gegen Ihren Willen dazu gebracht, Geschlechtsverkehr, Oralverkehr, Analverkehr zu haben? – Falls JA: - wie oft; - ungefähr in welchem Alter; - geben Sie bitte die Art der Beziehung zu der Person an (z.B. Fremder, Freund, Verwandter, Elternteil, Geschwister). Bei der Beantwortung der Fragen dieses Themenkomplexes merke ich wieder einmal, was für ein durchschnittliches Leben ich gelebt habe, und möchte mich nicht darüber beklagen. Auf der letzten Seite wollen sie Adressen des Hausarztes und gegebenenfalls Facharztes sowie der Klinik, in der man zuletzt stationär behandelt wurde. Ärzte habe ich nicht. Ich gebe die Adresse der lauschigen kleinen Hautklinik in Dahlem an, in der ich 2004 dreieinhalb Tage verbracht habe. Dann stecke ich den Fragebogen in das Kuvert und frage mich, wie sie das hinkriegen wollen: die Angaben im Fragebogen sofort nach Eintreffen (...) von den personenbezogenen Daten zu trennen und ausschließlich in anonymisierter Form auszuwerten und: weitere Angaben von behandelnden Ärzten einzuholen, wenn bei Ihnen eine Erkrankung aufgetreten sein sollte. Aber diese Unklarheit ist keiner der Gründe dafür, weshalb ich auf einmal keine Lust mehr habe, das Kuvert abzuschicken, das ich gerade zugeklebt habe. Die Gründe sind: Ich habe – siehe oben – keine vollständigen Angaben gemacht. Ich habe keine Sympathie mehr für die Studie und ich halte es für möglich, dass sie wertlos ist. Story of my life: Wenn ich mit Lampions handle, scheint nachts die Sonne. Wenn ich an einer Langzeitstudie teilnehme, bekommt sie den Paul Feyerabend-Gedächtnis-Preis für Science-Bullshit. Und ewig grüßt das akademische Nagetier. Andererseits: Ich habe mehr als 20 Minuten aufgewandt, um den Fragebogen auszufüllen. Da kann ich ihn doch jetzt auch wegschicken. Ich suche nach einer Rechtfertigung dafür, es nicht zu tun. Ich denke an Sabine Baer; die hat mir mal geschrieben, sie würde gerne meinen Blog finanziell unterstützen, aber dazu reicht ihr Geld nicht. Darauf habe ich geantwortet: Mit den 4 Töchtern, die sie mit ihrem Mann zusammen großzieht, tut sie schon genug für die Welt. Und dann denke ich: Indem ich diesen Blog schreibe, gebe ich der Welt schon genug von mir preis. Statt des Fragebogens werde ich meine Visitenkarte mit der Blogadresse nach Heidelberg schicken.