Montag, 18. Juni 2012

Ausschreibung


Nach zwei Stunden kann ich nicht mehr zuhören und habe erst mal keine Fragen mehr, obwohl ich so viel gar nicht gefragt habe. Ich habe von mir erzählt, darauf hat sie gesagt, was ihr dazu eingefallen ist von sich und so ist sie ins Erzählen gekommen. Alter Trick, um jemanden zum Reden zu bringen: über sich selbst reden. So lange, bis die andere Person endlich auch mal was sagen will:
Ich dachte, du wolltest etwas von mir hören.
Ja, natürlich. Entschuldige. Ich rede zu viel, weil ich den ganzen Tag allein war.
Das ist der Trick und der liegt mir, weil ich mir dazu nichts auszudenken brauche, da es einfach so aus mir heraussprudelt, wenn ich mich mit jemandem hinsetze zum Reden, weil ich so gut wie immer den ganzen Tag alleine war. Darüber will ich nun auch mit ihr sprechen. Über das Alleinsein. Ihr Alleinsein. Ich will wissen, wie sie lebt, und darüber will ich schreiben. Das Heikle dabei ist, dass sie glauben könnte, dass ich mein Alleinsein in eine Beziehung setzen will zu ihrem Alleinsein. Das kann ich nicht verhindern, sie wird es schon merken, dass das nicht so ist, obwohl sie mir schon gefallen könnte und wir uns gut verstehen und öfter lachen, aber es gibt keine Absicht bei mir außer der, zu erfahren, wie sie ihre Zeit verbringt und wie sie sich dabei fühlt und was sie noch nie jemand anderem erzählt hat, aber mir erzählt sie es.

Ich spreche darüber, dass ich mich allmählich mit dem Alleinsein abfinde, auch wenn es an manchen Tagen sehr schwerfällt. Gerade heute Nachmittag, erzähle ich ihr, da war ich mal an einer Stelle, wo ich mir überlegt habe, ob ich wieder einmal zu viel Rotwein trinken soll, weil das entspannt und das Problem ist dann nicht mehr das Alleinsein, sondern der Rotwein. Darauf will ich noch sagen, dass ich die Idee gleich wieder verworfen habe, und weil ich gerade an Das süße Leben vorbeigekommen bin, mir lieber zwei Negerküsse (korrekt: Schaumküsse) mit doppeltem Schokoladenüberzug gekauft habe. Und in meiner Geschwätzigkeit hätte ich ihr auch noch erzählt, dass die zwei Negerküsse zwei Euro gekostet haben und viel zu teuer waren für mein Budget, aber allemal günstiger, als in meine vor drei Jahren glücklich überwundene Rotweingewohnheit zurückzufallen. Doch dazu komme ich nicht, weil sie mich, kurz nachdem ich zum ersten Mal Rotwein gesagt hatte, unterbricht, um von ihren Weißweingewohnheiten zu erzählen. Als hätte sie nur auf diesen Einstieg gewartet, um nun endlich loslegen zu können. Und so war es auch, sagt sie mir zwei Stunden später, in denen wir über ihr Leben mit ihrem Weißweinproblem gesprochen haben. Denn ein Problem ist es und – gibt sie nun zu -, sie hat mich und das Gespräch mit mir nur benutzt, um auszuprobieren, ob sie offen mit jemandem darüber sprechen kann, der nicht ihre Vertraute oder ihre Suchtberaterin ist, bei der sie auf Anraten ihrer mütterlichen Vertrauten Hilfe gesucht hat, weil sie es allmählich mit der Angst zu tun kriegte vor dem, woran sie sich beim Aufwachen an den Morgen danach erinnert hat.

Was wird das schon sein, woran sie sich erinnert hat, denke ich. Irgendwelche Mr. Goodbar-Geschichten. Und die interessieren mich nicht. Noch vor vier, fünf Jahren hätte ich gar nicht genug kriegen können davon. Jetzt ist mir das alles zu interessant. Das sage ich auch zu ihr, als es darum geht, ob wir uns noch mal treffen sollen, um das Gespräch fortzusetzen. Sage es mit einem Grinsen, dass mir ihre Geschichte zu interessant ist, merke aber bald, dass es tatsächlich so ist: zu lustig, zu aufregend, zu dramatisch … - eine Geschichte von der Art, von der es viel zu viele gibt. Nicht Suchtgeschichten, meine ich. Geschichten, in denen sich etwas im Leben zuspitzt und dann zerbricht ein Mensch oder er wird gerettet oder, wenn es nach allen Regeln der alten Erzählkunst zugeht: er rettet sich selbst. Sie, die Frau, die Weißwein trinken kann wie Wasser, sie hat schon damit angefangen sich zu retten, indem sie freiwillig zur Suchtberatung gegangen ist. Und ich habe ihr auch gerne zugehört, als sie ihre Aufrichtigkeit an mir ausprobiert hat, aber schreiben will ich darüber nicht. Ich will über ein Leben schreiben, das so uninteressant ist, dass die Frau, die es hat, es gar nicht glauben kann, dass ich das alles wissen will, was sie mir da erzählt. Erst beim zweiten oder dritten Gespräch wird sie Zutrauen fassen zu dem, was sie mir zu erzählen hat, weil sie merkt, wie eine Geschichte daraus wird, während ich ihr zuhöre, und wenn ich sie aufgeschrieben habe, wird sie sehen, wie anders und wie viel interessanter ihre Geschichte ist als die Geschichten, die sie kennt.  

So eine Frau suche ich. Mit einem solchen Leben. Damit ich eine Geschichte darüber schreiben kann, die anders ist als die Geschichten, von denen es viel zu viele gibt.