Sonntag, 23. September 2012

Pagenkopf


Samstag 17.40. Edeka. Geld ist Scheisse. - Geld ist Scheisse? - Das meine ich nicht ernst. Das ist auch kein Witz und nicht ein Traum streng nach Psychoanalyse-Lehrbuch. Ich kann meine Handschrift nicht lesen. Erst kurz bevor ich aufstehe, um meine Lupe zu holen, die allerdings auch nicht immer gleich hilft, da erkenne ich, es heißt Gleditschstraße. Samstag 17.40 Uhr. Edeka. Gleditschstraße. Folgt die Aufzählung meines kargen Einkaufs: Zwei Birnen, eine Flasche Essigessenz (zum Waschen), ein Liter Milch. Wegen der Milch und der Birnen für das Frühstücksmüsli war der Einkauf unaufschiebbar. Aber ich werde jetzt nicht den folgenden Text abschreiben. Siebeneinhalb Seiten. Trotz der großen Buchstaben teilweise kaum zu entziffern. Im Mittelpunkt des Textes steht eine große blonde Frau, die mich vom ersten Moment an, da ich sie gesehen habe, nicht interessiert hat, obwohl sie alles getan hat, um aufzufallen. Frau mit sehr langen Beinen und einem sehr kurzen Rock, vor dem Kühlregal kniend so, dass ich mich gefragt habe, ob ich schon einmal so viel Beine gesehen habe.  Transparente, schimmernde braune Strumpfhose, hellbeige Kniestrümpfe mit Muster. Parodie eines Schulmädchens-Looks, falls die Frau Humor haben sollte. Zwei Töchter, die ältere hat dunkle Haare und wird einmal so groß wie ihre Mutter. An der Kasse Handygespräch der Frau mit ihrem Mann. Sie beschreibt ihm, was sie gerade macht. Uninteressant für mich, weil ich das ja sehen kann. Was der Mann gerade macht, erfahre ich, nachdem sie ihr Telefon weggesteckt hat und den Kindern erzählt, dass der Mann jetzt erst zum Drehen dran ist. Jetzt erst zum Drehen dran? Das können die Kinder auch nicht fassen. Da hätte er doch mit uns kommen können heute Morgen, sagt die kleine Tochter und die Frau sagt, dass er auch nicht auf seinen Schlaf hätte verzichten müssen, wenn er jetzt erst mit Drehen dran ist. Im Handschriftlichen setze ich mich jetzt bei dem Mann fest, weil ich mir über den nun alles Mögliche denken kann. Zugleich weiß ich, dass nichts so bedeutungslos ist wie das, was ich mir denken kann. Textentwurfzeit 12.50 Uhr. Gleich geht es weiter. Doch dann führt die Unterbrechung dazu, dass ich mich nun im Badezimmer festsetze. Keine Details. Mit dem Hauptabfluss stimmt was nicht, aber so, dass nicht nur das Badezimmer mit Abwasser volllaufen kann, wenn ich nicht aufpasse. Ich passe auf. Verstopfung? Luftblase? Wenn so etwas passiert, dann sonntags. Vielleicht ist es aber auch ohne Handwerkereinsatz hinzukriegen. Um 13.50 Uhr bin ich nicht mehr in Panik, habe etwas gegessen und frage mich, was will ich mit der großen blonden Frau, deren Dialog mit ihren Kindern mich schließlich so wenig interessiert hat, dass ich an die Kasse nebenan gegangen bin, als es dort schneller voranging. Große blonde Frau mit kurzen Haaren. Pagenschnitt. Unordentlicher Pagenschnitt. Der Kopf. Es sind nicht die Beine. Es ist der Kopf mit den kurzen hellblonden Haaren. Und jetzt weiß ich es auf einmal, was ich mit der Frau will. In meinem Text. Ich will ihren Kopf in die Hände nehmen und der Kopf ist ganz heiß und die große blonde Frau schreit: Du siehst mich überhaupt nicht mehr an!