Über allem ein Baudelaire-Zitat: Eine Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile. Und das ist wörtlich zu nehmen. Alle fünf Kapitel des Romans berühren oder behandeln die nicht abreißende Serie von Morden an Frauen in Ciudad Juárez, der im Norden Mexikos an der Grenze zu den USA gelegenen Stadt, die im Roman Santa Teresa heißt. Im vierten Kapitel – Der Teil von den Verbrechen – geht es ausschließlich um die Mordserie. Mit der Nüchternheit von Polizei-Protokollen und der Anschaulichkeit von Obduktionsberichten beschreibt Bolaño die Leichenfunde und er spricht es an keiner Stelle aus, dennoch ist das Gefühl nicht loszukriegen: wären die Ermordeten nicht fast alle Arbeiterinnen, Frauen aus der Unterschicht, die da weggeworfen wie Abfall auf den Mülldeponien der Stadt liegen, könnten Polizei und Justiz sich nicht diese Ratlosigkeit leisten, die am Ende so monströs ist wie die Mordserie selbst.
Eine Romanfigur sagt kurz vor Beginn des vierten Kapitels, dass in den Morden das Geheimnis der Welt verborgen sei. Der Satz ist vom Autor so platziert, dass ein Leser gar nicht anders kann, als sich immer wieder an ihn zu erinnern, wenn auf den folgenden 350 Seiten des Kapitels im Durchschnitt alle zwei Seiten der Fund einer Frauenleiche zu Protokoll gegeben wird, die toten Frauen mal nackt, mal bekleidet, aber fast immer vaginal und anal vergewaltigt und mit gebrochenem Zungenbein infolge Erdrosselns. Das Geheimnis bleibt ungelüftet, aber eine Ahnung stellt sich ein: wenn es überhaupt ein Geheimnis gibt, dann ist es allzu einfach und von so abstoßender Gewöhnlichkeit, dass es besser ist, es nicht zu kennen.
Bevor Roberto Bolaño allerletzte Hand anlegen konnte an sein Werk, ist er gestorben, im Alter von 50 Jahren, an Leberzirrhose, vermutlich einen Säufertod. Dem Text ist nicht anzumerken, dass der Autor nicht mehr zum Polishing gekommen ist. Und um mal richtig herzlos zu sein: für den Roman und seine Wirkungsgeschichte ist es sogar gut, dass Bolaño Drucklegung und Erscheinen seines Werks nicht mehr erlebt hat. Keine Interviews, keine Wolke von Autoren-Geschwätz umgibt das Buch. Allerdings auch keine Erklärung des rätselhaften Titels: 2666 haben wir aus seinem Mund. – Aber was wird der Titel schon bedeuten? Kabbala hat Roberto Bolaño nicht getrieben, also wird es eine Jahreszahl sein. In der am Ende des Buches stehenden Anmerkung zur spanischen Erstausgabe gibt es einen Fingerzeig. Zitat aus einem früheren Werk Bolaños: … die beiden gingen nun ein wenig langsamer als zuvor, und meine Stimmung wurde immer gedrückter. Die Avenida ähnelt zu dieser Stunde vor allem einem Friedhof, aber weder einem Friedhof von 1974 noch von 1968 oder 1975, sondern einem Friedhof im Jahre 2666, einem Friedhof vergessen hinter einem toten oder ungeborenen Augenlid, dem wässrigen Rest eines Auges, das, weil es etwas vergessen möchte, am Ende alles vergessen hat. – So wunderschön, so leer!
Speakers´ Corner: Ich bin schon lange der Überzeugung, dass man keine Romane mehr lesen muss (*). Das Erzählen ist weiter gezogen, weg vom Plot, weg von der Poesie des wässrigen Rests eines Auges. Wohin? Wir werden es sicher bald erkennen können. - Muss man 2666 gelesen haben? – Ich habe darin nichts erfahren, was ich nicht vorher schon wusste oder auch in einer Zeitung hätte lesen können (**). Trotzdem bin ich froh, das dicke Buch gelesen zu haben (heute die letzten hundert Seiten). Weil ich immer gerne Romane gelesen habe und es ein Vergnügen ist, noch einmal einen Meister wie Bolaño am Werk zu sehen. Mehr als ein Vergnügen ist es allerdings nicht. Ein Vergnügen in einer Kultur der Vergnügungen. Das kann nicht alles sein.
(*) Damit meine ich nicht die großen Romane des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern die gegenwärtige Romanproduktion.
(**) NYT: Wave of Violence Swallows More Women in Juárez
Roberto Bolaño
2666
1096 Seiten
Hanser Verlag 2009