Wenn ich sie anschaue, kann es gar nicht anders sein: Sie ist es. Wenn ich ihr zuhöre, dann ist es ganz klar, dass sie es nicht ist, und ich denke, ich sollte vermeiden, immer wieder darauf zurückzukommen, denn wenn sie es nicht ist, weiß niemand besser als sie, wie ich daneben liege und in was für einem Wahn ich lebe. Wenn sie es nicht ist. Wenn ich daneben liege.
Was noch dafür spricht, dass sie es ist: dass wir mit einer Vertrautheit miteinander umgehen, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Tun wir ja auch – wenn sie es ist: vor etwas mehr als drei Jahren haben wir zum ersten Mal miteinander gesprochen und dann lange nicht mehr. Wenn sie es nicht ist, dann ist es einer der seltenen und deshalb kostbaren Fälle von Verständnis ab dem ersten Satz. Was nicht heißt, dass man mit allem einverstanden ist und alles wird gut. Mit Martina aus Hamburg hatte ich vor mehr als zehn Jahren auch so ein Verständnis, aber nur, weil wir uns auf das Verständnis beschränkt und alles andere gelassen haben. Martina ist Jahrgang 1971, inzwischen - Kontakt zu ihr verloren - ist sie also 40. Zur Contessa hat es mal die Information gegeben, sie sei gar nicht so jung, wie ich annahm, sie sei geboren am 11. September 1971. Wegen der Quelle, aus der das kam, hätte es auch eine absichtliche Fehlinformation sein können. Sonst aber hätte es schon gepasst zu dem, was ich mit ihr erlebt und nicht erlebt habe, und manches daran erinnerte mich an Martina. So wie mich auch an der Frau, mit der ich gestern im Café Sur verabredet war, manches an Martina erinnerte. Als ich sie fragte, wie alt sie ist, sagte sie, sie sei 37. Damit wäre sie allerdings so alt, wie ich die Contessa ursprünglich geschätzt hatte.
Wir waren also verabredet gestern. Ich kam etwas früher und habe daran gedacht, wie oft ich auf die Contessa vergeblich gewartet hatte an Plätzen wie dem Café Sur. Aber da sah ich sie auch schon mit ihrem Fahrrad die Straße überqueren und als sie herein kam, habe ich zu ihr gesagt: Dass du zu unserer Verabredung kommst, ist ein weiteres Indiz dafür, dass du nicht die Contessa bist. – Denkst du das denn immer noch? fragte sie lachend und das war einer der Momente, wo es völlig klar war, dass sie nicht die Contessa ist. – Ich habe mir das so lange in den Kopf gesetzt, dass du es bist, so schnell komme ich da nicht weg davon, sagte ich um ihr Verständnis bittend. Später fragte sie mich, weshalb ich die Frau aus dem Hallenbad Contessa genannt habe. Ich habe ihr darauf von Hemingway, seinem Venedig-Roman und dem kurzen Glück erzählt, das ein alter Oberst und eine sehr junge venezianische Contessa in dem Roman zusammen erleben. Ich habe ihr jedoch nicht von dem zweiten, dem entscheidenden Grund erzählt: von dem contessenhaften Gebaren, mit dem sie oder die Frau, die ihr so ähnlich sieht, mich fast verrückt gemacht hat, so hingerissen war ich von ihr. Danach haben wir lange über sie und ihre Lebensumstände gesprochen. Darüber Stillschweigen. Nur, dass es dabei auch mal um Fotografie ging. An der Stelle habe ich meine Kamera hervorgeholt und sie vor mich hingelegt, unter dem Vorwand, ihr die Fotos zeigen zu wollen, die ich am Vorabend bei Peter gemacht hatte. Die haben wir dann auch zusammen angeguckt. Ihr haben die gleichen Bilder gefallen wie mir, und als sie die Fotos von I. L. sah und ich sie die überwältigende I.L. genannt habe und erzählte, wie sie mich aufgefordert hat, mit ihr vor die Tür zu gehen, weil da das Licht besser ist für ihr Gesicht, da hat sie auf das Display der Kamera gedeutet und gesagt: Die hat tätowierte Augenbrauen. Nachdem ich ihr alle Bilder gezeigt hatte, fragte ich sie, ob ich sie fotografieren darf, und sagte schnell dazu: nur für mich, ich zeige die Fotos ohne dein Einverständnis nicht im Blog. – Sie: Nein. – So entschieden das Nein, dass ihre Erklärung, dass sie sich auch sonst nur ungern fotografieren lässt, überflüssig war. Ohne Murren habe ich meine Kamera weggesteckt, doch als ich mich heute Morgen nach dem Aufwachen daran erinnert habe, da dachte ich, dann können wir alles weitere vergessen, wenn sie sich nicht fotografieren lässt, dann ist sie für den Blog durch und damit auch für mich. So grimmig wie nach dem Aufwachen sehe ich es inzwischen nicht mehr. Jetzt ärgere ich mich nur noch darüber, dass sie meinen kleinen schlauen Plan durchkreuzt hat mit ihrem Nein. Die Contessa hat ihre Augenbrauen so gezupft, dass nur zwei dünne Striche übrig blieben. Sie – die nicht die Contessa ist oder doch? – hat ebenfalls gezupfte, aber natürlich geformte Brauen. Das Programm heißt GIMP, ist Freeware, bietet alle Möglichkeiten von Photoshop, und damit wollte ich die Fotos von der Frau, mit der ich gestern verabredet war, retuschieren, indem ich ihr die Augenbrauen der Frau aus dem Hallenbad verpasse. Gleich wie das Experiment ausgegangen wäre, es wäre ein starker Beweis gewesen. Hatte sie das mit ihrem entschiedenen Nein verhindern wollen? – Glaube ich nicht. Sie hat Nein gesagt, weil sie so zimperlich ist wie viele andere auch, wenn es ums Fotografieren geht. Sonst ist sie gar nicht so zimperlich. Als wir aus dem Café Sur herausgekommen sind, ist sie dann allerdings gleich auf ihr Fahrrad gestiegen und losgefahren, statt das Fahrrad neben sich her zu schieben und noch ein Stück mit mir zu gehen. Doch das hatte nichts mit Zimperlichkeit zu tun, sondern sicher damit, dass sie sich mit mir nicht so wohl gefühlt hat wie ich mich mit ihr.
Foto: Roger und Renate Rössing, Porträt einer jungen Frau mit gemalten Augenbrauen, Leipzig 1953; Quelle: Deutsche Fotothek via Wikimedia Commons.